Rezension von Lennardt

Kazuo Ishiguros Roman „Was vom Tage übrig blieb“ wird oft als moderner Klassiker bezeichnet. Doch was macht einen Roman zum „Klassiker“? Neben einigen umstrittenen Kriterien werden wohl zwei als unangefochten gelten: zum einen literarische Qualität in Sprache und Personengestaltung, zudem das Abhandeln von Themen, die durch ihre aufgeworfenen Fragestellungen und Lösungsansätze zeitlos sind. Ebendiese Losgelöstheit von zeitlichen Umgebungen ist allen Klassikern gemein.

Ishiguros Roman „Was vom Tage übrig blieb“ stellt auf den ersten Blick das genaue Gegenteil dar: der Autor nimmt den Leser mit in eine vergangene, fast vergessene Welt- in die alte englische Adelsherrschaft des frühen 20. Jahrhunderts, er nimmt den Leser mit nach Darlington Hall. Stevens ist der Butler von Darlington Hall und zugleich die Hauptperson des Romans. Der Leser gewinnt ein Bild eines ergebenen, über alle Maßen loyalen Butlers, der nach zweierlei strebt: der vollkommenen Zufriedenstellung des Dienstherren, und dies unter dem Erreichen dessen, was Stevens´ Meinung nach einen Butler der Spitzenklasse – einen großen Butler – von einem lediglich sehr guten Butler unterscheidet: Würde.

Der Bestseller ist aus der Perspektive des Butlers Stevens geschrieben, der Sprachstil entspricht ganz dem Bild seiner täglichen Arbeitsweise- akkurat, detailliert, zunächst kühl und erhaben.

Stevens sieht Dienstherren kommen und gehen, er sieht Personal kommen und gehen. Dann wird Miss Kenton eingestellt. Ein anfangs kühles, kollegiales Verhältnis zwischen beiden versucht sich zunehmend in ein wärmeres, zwischenmenschliches zu verwandeln, wobei Miss Kenton oftmals die Initiative zum Abtauen des beruflich bedingten eisstarren Kollegenverhältnisses ergreift. In dieses zaghafte Aufkeimen von Emotionen und Zuneigung zwischen Stevens und Miss Kenton wird der Leser unweigerlich hineingezogen, fühlt zwangsläufig mit, ja – möchte dem sperrigen Stevens gar mit bestimmter Härte einen Schubs in Richtung Leben geben.

All dieser Anekdoten erinnert sich der Butler Stevens bei einer Autofahrt durch die Landschaften Englands, als er sich Jahre später auf die Suche nach der verzogenen Miss Kenton macht, um diese zur Rückkehr nach Darlington Hall zu bewegen. So reist Stevens auch zurück in seine Erinnerungen, begegnet verschiedenen Personen, auf der Reise durch die Dörfer, aber auch auf der Reise durch seine Vergangenheit. Letztlich muss er sich erschütternden Erkenntnissen stellen.

Ishiguros Roman wirft eine Frage auf, welche die Hauptperson des Romans und den Leser gleichermaßen betrifft: was erwarten wir neben aller uns treffender Verpflichtungen vom Leben und wieviel Zeit bleibt uns, diese Erwartungen uns gegenüber zu erfüllen? Rückblickend muss der ein oder andere erschreckenderweise feststellen, dass das, was vom Tage übrig blieb, hierfür nicht ausreichend war. Es heißt sich nicht zu verrennen und das Glück am Schopfe zu packen, so man es denn erkennt. Vieles lässt sich aufschieben und nachholen, nicht jedoch Momente und Gelegenheiten.

Ebendieses Thema macht Ishiguros Roman so zeitlos, vielleicht ist die Fragestellung in unserer heutigen, schnelllebigen Zeit gar bedeutender als je zuvor. Wir haben es hier mit einem echten Klassiker zu tun. Über dieses Thema hinaus wird der Leser zusammen mit dem Butler Stevens Zeuge von – teilweise prägenden- Ereignissen der Geschichte, etwa von Zusammenkünften des Dienstherrn mit Winston Churchill oder dem deutschen Reichsminister Joachim von Ribbentrop im Vorwege des zweiten Weltkrieges. Vor allem aber wird der Leser Zeuge einer Hauptperson, die sich zum Ende des Romans hin von innen heraus wandelt, einsichtig wird. Sein Leben lang war Stevens immer dort, wo er gebraucht wurde, stets aufmerksam und ergeben; letztlich erkennt der Außenstehende in ihm das, wonach Stevens lebenslang strebte- einen großen, würdevollen Butler. Es ist Stevens selbst, der dies wohl nicht bemerkt.

Wahrnehmen tut er letztlich jedoch, dass er etwas verpasst hat, was ihn abseits eines unnachgiebigen Strebens nach Butler-Würde zu einem glücklichen Menschen hätte machen können. Aber als ihn diese Erkenntnis erreicht, ist die Zeit dafür abgelaufen, genau wie die der altenglischen Aristokratie, welcher er sich zeitlebens zu ewigem Dienst verschrieb.

Ein brillanter Roman. Trotz der kühlen Atmosphäre und des beherrschten Butler-Charakters Stevens´ ist es ein Buch der Emotionen, auch eine Liebesgeschichte, die sich zart andeutet und die Hoffnung des mitfühlenden Lesers weckt. Ishiguro schildert rührend die Beziehung Stevens´ zu seinem alten Vater, welcher einst ebenfalls ein großer Butler war und sich noch als solcher sieht, während er verzweifelt gegen Altersgebrechen kämpft. Durchsetzt wird das auf das Umfeld hin abgerundete „würdige“ Sprachbild Stevens´ durch elegante Einspieler von Ironie, die sich punktuell so schnell und treffsicher einschleichen, wie sie wieder verschwinden.

Ein Buch, dass den Leser empathisch mitfühlen lässt; eine emotionale Spannung, die den Leser stellenweise zu einem mitfiebernden aber machtlosen Zuschauer degradiert, der doch zu gerne zugunsten der beiden Bediensteten eingreifen möchte. Herzzerreißend ist hier nicht kitschig zu verstehen- im Gegenteil: ernüchternd. Denn dem Butler Stevens bricht die späte Erkenntnis wahrhaftig das Herz.