Rezension von Beste Bücher

„The heart wants, what the heart wants“. Timms Roman handelt von zwei Ehepaaren – vier Protagonisten – die sich über Kreuz verlieben und dabei viel, viel Porzellan zerschlagen.

Eschenbach, der den Stein ins Rollen brachte, lebt zum Schluss als Eremit auf einer unbewohnten und unter Naturschutz stehenden Insel als Vogelwart. 

Rückblickend erzählt er den Ablauf der Dinge. Von den ersten harmlosen Begegnungen, über das gemeinsame Beisammensein als befreundete Ehepaare bis zu den ersten heimlichen Treffen; zunächst verschämt in Hotels, später pragmatisch im Ehebett…

Rezension

Timms „Vogelweide“ gelingt das Kunststück, die moralischen Abgründe des Ehebruchs auszuloten, ohne zu moralisieren und dem Leser das Urteil vorwegzunehmen. Es gelingt ihm, indem er – auch sprachlich – größtmögliche Distanz wahrt. Der Protagonist Eschenbach beispielsweise ist stets Eschenbach, nicht „Christian“. Den Vornamen erfahren wir erst beiläufig auf Seite 104. 

Die zentrale Frage des Romans: Wie rechtfertigen wir das Begehren, obwohl doch das Objekt unseres Begehrens in einer festen Beziehung, gar in einer Familie lebt? Timm legt die Erörterungen seinen Figuren in den Mund. Anna etwa sagt: „Beide haben wir Glück. Lieben unsere Partner. Warum also das? Es gibt keinen Mangel an Liebe. Das ist zutiefst unmoralisch, man ist glücklich und will noch mehr. Das ist laßlos„. Die Erkenntnis hält die beiden freilich nicht davon ab, die jeweiligen Beziehungen zu zerstören. Annas Familie zerbricht. „Eschenbach beobachtete Anna, die leise mit ihrer Tochter sprach und dachte, was habe ich getan, in was bin ich, sind wir hineingeraten? Diese freundliche, einander zugewandte Familie in Frage zu stellen.“

Interessant sind die vier Figuren, alle vier aus dem bildungsbürgerlichen Milieu, die sich gegenseitig Soziologenweisheiten von Bourdieu über Lévi-Strauß bis Luhmann zuraunen. In ruhigen Minuten werden Montaignes Essays aufgeschlagen. Ein Unternehmer, der Theologie studiert hat, eine Kunstlehrerin, ein Stararchitekt und eine polyglotte Kunstschmiedin. Wenngleich Timm mitunter etwas dick aufträgt, wenn er seine Akteure in Liebesdingen bei Luhmann nachlesen lässt, was die Systemtheorie dazu zu sagen hat. Wer macht so was? Nicht mal Luhmann selbst hätte da seinen berühmten Zettelkasten bemüht. Das Uwe Timm Soziologie studiert hat, muss man nach der Lektüre von „Vogelweide“ nicht erst bei Wikipedia nachschlagen. Auch sonst trifft man nicht selten Klischees an – vom stets gut gekühlten guten Wein bis zu Oldtimern und Segelsport. Allerdings, Klischee oder nicht, für die obere Mittelschicht ist das eben durchaus übliches Equipment, wer will das leugnen.

VogelweideUnd wie es sich für Bildungsbürger gehört, sind die Protagonisten mehr als geübt darin, Selbstreflexion zu üben. Überhaupt, der Blick ins eigene Ich, gewissenhaft und semiprofessionel – es mutet schon egozentrisch an, wie die vier sich selbst sezieren, stets das „ich“ auf den Lippen. Schonungslos einerseits, nutzlos andererseits. Das Gegenseitige Begehren wird als externe Macht begriffen, die – obwohl absehbar – gewissermaßen von außen über die beiden Paare kommt. „Wir müssen ins Offene kommen. Komm zu mir. Wir werden Selma und Ewald sagen, was uns widerfahren ist„. Soso, widerfahren. Nach dem Sündenfall fallen sich auch die beiden „übriggebliebenen“ Partner gegenseitig in die Arme.  

Timms Vogelweide ist die fein-säuberliche Rekonstruktion einer privaten Katastrophe, die alle kommen sehen mussten und die doch keiner aufhielt. Timm arbeitet dabei bewundernswert akribisch und arbeitet die unterschiedlichen Blickwinkel sauber und glaubwürdig auf. Es wirkt wie Gewinnmaximierung, was Eschenbach und Anna betreiben. Anna, die eigentlich religiös ist und – allerdings nur wohlfeil-mündlich – die Institution der Ehe verteidigt, sagt: „Es soll nicht möglich sein, dass immer wieder ein anderer, noch besserer kommen kann, und damit Beliebigkeit schafft. Dann sind wir auf dem Markt. Greifen Sie zu. Die Gelegenheit ist günstig! Jung, attraktiv. Grabbelkiste.  Dann hängt alles von Zufall und Zeitpunkt ab und wir nennen es Leben. Immer den noch besseren Partner suchen, das beste Angebot.“

Timms Stärke ist das Beobachten, das distanzierte Beschreiben ohne zu verurteilen, ohne den erhobenen Zeigefinger. Auffällig, und womöglich die einzige Schwäche des Romans, ist das Fehlen der Perspektive der Kinder. Zwei noch sehr jungen Kindern wird der Vater genommen, sie sind die Kollateralopfer der Mutter, die zuerst Ehebruch begeht und dann mit ihren Kindern auf die andere Seite des Erdballs entschwindet. Weil sie dort nicht mehr an die Schuld erinnert werden möchte, dabei schafft sie auf diese Weise neue Schuld. Das Schicksal holt sie bei Timm ein und auferlegt ihr auf den letzten Seiten des Buches eine schreckliche Strafe, könnte man meinen. Allenfalls das Leid des insofern unschuldigen Vaters, der ja auch seine Kinder verliert, oder jedenfalls nun noch selten und unter großem Aufwand sieht, wird gestreift. Die Kinder – kaum ein Faktor bei Timm.

„Vogelweide“ ist auf einer tiefen Ebene elektrisierend und „lehrreich“, denn es zwingt uns Leser, uns in die Rolle der Protagonisten zu begeben: Wie würde ich mit der Versuchung umgehen? Wie würde sich mein Verhalten auswirken? Worst Case, Best Case? Kann denn Leidenschaft eine Entschuldigung für jede Schweinerei sein? Und es führt die Zerbrechlichkeit der eigenen Beziehung vor Augen, auch noch nach Jahrzehnten und mit Kindern.

Infos

  • Uwe Timm, 1940 in Hamburg geboren, hat Soziologie und Volkswirtschaftslehre studiert
  • Vogelweide auf der Website des Verlags KiWi mit Leseprobe als pdf-eBook
  • Video-Lesung Uwe Timm „Vogelweide“