„Die alten Klassiker werden letztendlich den neuen weichen müssen“

 

Fabelhafte Bücher: Klassiker wie Sartres „Die Wörter“ oder Morus‘ „Utopia“ gehören seit langem zum Kanon der wichtigsten Bücher. Andererseits sprechen manche dieser Werke nur ein bildungsbürgerliches Spezialpublikum an. Können sich solche Klassiker noch gegen moderne Autoren behaupten, oder müssen die alten Klassiker für die neuen Klassiker von Morgen Platz machen?

Sean O‘Connell: „Utopia“ von Thomas Morus ist die erste literarische Utopie der Neuzeit, der Beginn der Phantastischen Literatur überhaupt. Dementsprechend wird dem Werk auch heute noch ganz klar eine große Bedeutung zugemessen, allerdings vermutlich eine rein akademische. Sartres „Die Wörter“ würde ich sogar ausschließlich als Kind seiner Zeit einstufen und demzufolge ist die Frage mehr als berechtigt, ob diese Klassiker noch Gültigkeit für die Gegenwart haben. Meine knallharte Meinung in diesem Fall: nein, die Welt ist im Fluss und sie wird nicht aufhören sich weiterzudrehen, deshalb werden die alten Klassiker letztendlich den neuen weichen müssen. Basta.

Sabine Schönfellner: Da habe ich einen anderen Ansatz als Sean. Ich bin der Meinung, dass Klassiker immer noch sehr wichtig sind, weil sie ein kulturelles Allgemeinwissen, einen gemeinsamen Pool, bilden, aus dem wir alle schöpfen. Auf Klassiker wird immer wieder verwiesen und sie enthalten viele Geschichten, die Grundkonstellationen und wichtige Vorstellungen transportieren. Das ist nicht nur akademisch. Abgesehen davon sind Sartres „Die Wörter“ und Morus‘ „Utopia“ zwei interessante Beispiele, die ihr hier nennt, weil ich sie noch nicht gelesen habe, aber als Literaturwissenschaftlerin natürlich sofort ein schlechtes Gewissen bekomme, dass ich sie noch nicht gelesen habe. (augenzwinkernd)

Pia Ziefle: Letztlich gebe ich euch beiden recht – eines der schönsten Dinge nach Schulabschluss ist ja, den allgemeinen Klassikern endlich entronnen zu sein. Im Studium kommen sie dann wieder, kanonisiert und in Zusammenhänge zu anderen Disziplinen gesetzt, wie z.B. den Sozialwissenschaften – und schon haben sie eine andere Dimension bekommen, und man selbst verfügt über ein paar Jahre mehr an Lebenserfahrung. Im besten Fall wird der Zugang leichter. Aus genau diesen Gründen aber werden langsam neue Bücher, Themen, Autoren als Klassiker nachrücken. Zuerst in die Schulen womöglich.

Sean O’Connell (1967) der originelle Autor von Büchern wie „Tír na nÓg“ und Kurzgeschichten wie im Geschichtenband „Verloren im Intermundium“ mischt nicht nur gerne Genres wie Fantasy, Steampunk, Science Fiction und Post-Doomsday.

Fabelhafte Bücher: Rankings wie das der ZEIT, von Le Monde oder der britischen BBC hatten verschiedene Ansätze, um die „besten“ Klassiker zu ermitteln. Naturgemäß bleiben da viele Werke auf der Strecke. Daneben gibt es natürlich auch neue Ranglisten aktueller Werke. Was ist von solchen Ranglisten aus eurer Sicht grundsätzlich zu halten?

Sabine Schönfellner: Ich finde Rankings sehr nützlich, da sie mir einen Überblick verschaffen, welche interessanten Neuerscheinungen es gerade gibt. Aber ich frage mich bei einzelnen Werken, wie sie in die Rankings kommen, da ich sie dann beim Lesen oder schon beim Lesen des Klappentextes uninteressant und unoriginell finde.

Sabine Schönfellners (1987) Leben dreht sich um die Literatur. Studiert hat
sie 
Vergleichende Literaturwissenschaft, außerdem arbeitet sie seit 2006 für die Kinder- und Jugendliteraturwerkstatt in Graz. Auf „eselsohren“, dem österreichischen Online-Büchermagazin hat sie etliche substantiierte Rezensionen und Artikel verfasst, die Lust auf’s Lesen machen.

Sean O‘Connell: Ich würde diesen Ranglisten grundsätzlich keine ernsthafte Bedeutung zumessen. Ich habe mal gelesen, dass die meisten Buchkäufe in Deutschland ohnehin ins Blaue hinein getätigte Geschenke sind und nicht etwa gezielte Erwerbungen des interessierten Lesers. Vielleicht erklärt das sogar den Erfolg von Bohlen, Hirschhausen und Co. Und ja, seien wir ehrlich: wir leben nun mal in einem Zeitalter der Oberflächlichkeiten, und nicht alles, was die Publikumsverlage auf den Markt werfen, verkauft sich allein dank der Werbung und des Marketings, manch Seichtes ist vielleicht tatsächlich eine Herzensangelegenheit des Lesers.

Fabelhafte Bücher: „Keine ernsthafte Bedeutung“ ist aber ein hartes Urteil. Immerhin ist es für die Autoren bares Geld wert, in die Spiegel-Bestsellerliste zu kommen und damit die eigene Sichtbarkeit zu erhöhen.

Sean O’Connell: Das spricht aber auch nicht gerade für die Rankings, denn wer angesichts von rund 100.000 Publikationen im Jahr allein in Deutschland bei solchen Ranglisten auf der Strecke bleibt, der tut sich schon mal schwer in diesem Land seine Werke an die Frau und an den Mann zu bringen.

Pia Ziefle:  Zumindest die Weltliteratur-Rankings finde ich sehr spannend. Gerade weil die Herausgeber dieser Listen selbst ein Label bilden und ihren Listen einen Stempel aufdrücken. Ich mag die Behäbigkeit dieser Listen, die eben nicht auf jeden Windwechsel im Lesergeschmack reagieren. Anders ist das natürlich bei den wöchentlichen Bestenlisten, die dann monatelang voller Vampirromane sind – allerdings entstehen die ja auf andere Weise, nämlich durch die Verkäufe, ein wesentlicher Unterschied zu den anderen Listen, über die wir gesprochen haben.

Pia Ziefle (1974) hat nicht nur eine komplizierte und vielschichtige Familiengeschichte, die sie in ihrem Debütroman „Suna“ unvergesslich und mitreißend verarbeitet. Vielschichtig ist auch ihr Lebensweg. Als dreifache Mutter, Autorin, ehemalige Siebdruckerin und Drehbuchautorin lässt sie sich nicht leicht auf eine Rolle festlegen.

Fabelhafte Bücher: Stimmt. Aber auch da gibt es ja verschiedene Ansätze. Die ZEIT hat die großen Experten gefragt, denen zufolge müssen wir Vergil und Homer lesen. Die BBC fragte das Volk, da landen dann gleich alle Harry-Potter-Bände unter den Top-100. Le Monde hat die Experten gefragt und damit die 200 wichtigsten Werke gekürt und unter diesen dann wiederum per Umfrage die 100 wichtigsten Bücher der Franzosen ermittelt. Ist das ein intelligenter Mittelweg oder ist das bevormundend?

Pia Ziefle: Es ist gut zu wissen, auf welche Weise die Listen zustande kommen, aber sie sind für mich mehr ein Ideengeber, ob sie von Experten (was für welche sind das?) oder von Lesern sind. Ich käme nicht auf die Idee, sie abzuarbeiten. Aber es ist sehr interessant zu sehen, welche Themen sich halten – und darüber nachzudenken, warum das so ist.

Fabelhafte Bücher: Das ist ein pragmatischer Blickwinkel. Trotzdem gibt es vielleicht bessere und schlechtere Wege, die Großen der Weltliteratur zu ermitteln. Was ist mit dem französischen Ansatz?

Sean O‘Connell: Es kann hier doch keinen intelligenten Mittelweg geben! Dafür sind die Interessen und Standpunkte zwischen Experten und Volk zu sehr unterschiedlich, beziehungsweise zementiert. Die selbst ernannten großen Experten blicken nun mal gerne besitzstandswahrend auf die Errungenschaften der Klassiker zurück und fürchten um die Bildung und den Verstand des Volkes. Das Volk hingegen kennt diese Klassiker aber oftmals gar nicht (mehr) und feiert stattdessen lieber seichte Bestsellertitel, über die jeder im Café oder auf Arbeit spricht. Der Homer der Gegenwart heißt nun mal J. K. Rowling oder Dan Brown – auch wenn es manche von uns nicht laut sagen.

Fabelhafte Bücher: Dan Brown der neue Homer? Wir können nur hoffen, dass damit Homer Simpson gemeint ist…

Sabine Schönfellner: Das ist wohl beiden Homers gegenüber etwas unfair, sie so nebeneinander zu stellen! Aber im Ernst – ich halte das schon für einen intelligenten Mittelweg, weil so hoffentlich stärker vertreten ist, was die Menschen lesen wollen im Vergleich zu dem, was sie lesen sollen. Wobei bei der Frage nach den „wichtigsten“ Büchern vielleicht leider auch wieder viele nur angekreuzt haben, was sie denken, das sie lesen sollten.

Fabelhafte Bücher: Ja, oder jene, die sie noch irgendwie aus der Schulzeit grob in Erinnerung hatten. Davon abgesehen fällt auf, dass die geläufigen Ranglisten der wichtigsten Werke der Weltliteratur einen starken westlichen Schwerpunkt haben. Russland: ja, Skandinavien: ein wenig. China: Fehlanzeige. Wie kommt das?

Sean O‘Connell: Aus der Sicht Europas (und auch Amerikas) sind die genannten Ranglisten nichts anderes als ein Ausdruck einer nationalen Nabelschau. Klar, ein Charles Dickens war beispielsweise einfach notwendig für die Artikulierung der sozialen Frage im England des 19. Jahrhunderts. Das hat jeden umgetrieben, jeden bewegt. Und deswegen verkauften sich auch seine Werke wie geschnitten Brot. China hingegen ist uns kulturell – trotz Globalisierung – immer noch fremd. Da bleibt kein Platz in den Charts. Denn wir wissen doch: was wir nicht kennen, kaufen wir auch nicht.

Pia Ziefle: Durch den Literaturnobelpreis für Mo Yan ändert sich ja vielleicht etwas daran. Ehrlich gesagt, weiß ich das auch nicht genau, ich kann mir aber vorstellen, dass der nicht sehr einfache Zugang zu dieser Literaturwelt eine Rolle spielt.

Sabine Schönfellner: Ich denke, das hängt mit geringem kulturellem Austausch zusammen – auch in anderen Bereichen erfahren oder wissen wir generell wenig über außereuropäische oder weltpolitisch nicht zentrale Länder. Damit ist auch verbunden, dass aus vielen Sprachen leider wenig ins Deutsche übersetzt wird – ins Englische wird noch mehr übersetzt, aber auch dort ist die Präsenz von Autoren aus solchen Ländern geringer.

Fabelhafte Bücher: Ein anderes Thema ist ja, dass die Listen der ZEIT, der BBC und von Le Monde trotz unterschiedlicher Herangehensweisen immer den heimischen Autoren das meiste Gewicht geben. Welches Licht wirft das auf die Seriosität solcher Ranglisten?

Sabine Schönfellner: Als Stimmungsbild gewisser Länder sind Listen bestimmt tauglich. Interessant finde ich aber – hoffentlich nicht nur als Österreicherin – in dieser Hinsicht die Frage, inwiefern es „deutsche“ und „österreichische“ Autoren gibt. Während in anderen Bereichen die Unterschiede betont werden, scheinen diese bei den großen Buchrankings zu verschwinden, da sind regelmäßig Autoren aus dem anderen Land vertreten, vor allem, wenn sie bei großen Verlagen verlegt werden. Außerdem kann ich mir schwer vorstellen, wie man eine „unabhängige“ Liste gestalten sollte: Wie sollte man die Experten auswählen? Sollten US-Amerikaner, Chinesen, Norweger gleich viele Stimmen haben oder sollte eine Gewichtung nach dem Umsatz im Buchhandel, nach der Anzahl der Autoren oder ähnlichem erfolgen?

Fabelhafte Bücher: Dazu fällt uns nur das Bonmot von Billy Wilder ein, der meinte: „Die Österreicher haben das Kunststück fertiggebracht, aus Beethoven einen Österreicher und aus Hitler einen Deutschen zu machen.“ Man könnte auch sagen: Wo sich die Leser nicht mehr ganz sicher sind, welcher Nation der jeweilige Literat zuzuordnen ist, ist die europäische Einigung doch schon vollzogen…

Sean O‘Connell: Ich bleibe dabei: Ich zweifle an derlei Rankings. Es mag ein Übergewicht an heimischen Autoren in solchen Listen geben: das liegt daran, dass wir in unseren Herzen eben einen unauslöschbaren patriotischen Kern haben und gerne vermehrt Werke aus heimatlichen Gefilden lesen, wie beispielsweise Regionalkrimis. Aber mal im Ernst, was bedeutet denn eigentlich ein erster Platz in einer Top 10 aus qualitativer Sicht? Ist Wolfgang Hohlbein denn wirklich der bessere Literat als Peter Handke?

Fabelhafte Bücher: Nichts gegen Hohlbein – aber wohl eher nicht. Aber es gibt doch einen Unterschied zwischen, sagen wir der Spiegel-Bestsellerliste, die einfach nur auf die Verkaufszahlen schaut und der ZEIT-Weltliteratur-Liste, die einen ganz anderen Ansatz hatte und die „wichtigsten“, „besten“, „bedeutendsten“ Bücher suchte.

Pia Ziefle: Ich will mich nicht erschüttern lassen in meinem Glauben daran, dass diese Listen mit den besten Absichten erstellt werden, nämlich möglichst prominent für wesentliche Werke zu werben – solange viele Bücher solcher Listen viele neue Leser finden, haben sie ihren Zweck erfüllt.

Fabelhafte Bücher: Die BBC hat ungefähr 750.000 Britten nach ihren Lieblingsbüchern gefragt, nur eines – Parfüm von Patrick Süskind – ist von einem deutschen Autor. Umgekehrt sind die Briten im „deutschen“ Ranking der ZEIT ganz ordentlich vertreten. Liegt das an der Sprache? Oder sind wir einfach zu spröde für das Inselvolk?

Sabine Schönfellner: Ich denke, das liegt insofern an der Sprache, als dass der englische Sprachraum viel größer ist und daher schon viel „eigensprachliche“ Literatur vorhanden ist. Übersetzte Literatur wird demnach wahrscheinlich weniger wahrgenommen.

Sean O‘Connell: Die Briten (wie auch die Amerikaner) begreifen Literatur als erlernbares Handwerk. Sie sind da ganz unverkrampft, unterhalten fröhlich Schreibseminare und tauschen sich lässig mit Tipps und Tricks aus. In Deutschland hingegen meint jeder insgeheim oder ganz offiziell, ein direkter Erbe Schiller oder Goethes sein zu müssen, um in der literarischen Szene – und im Feuilleton – bestehen zu können. Das wirkt sich oftmals eher hinderlich auf die Geschichten und auf die Erzählweise aus. Man behält seine handwerklichen Kniffe in der Regel für sich (denn erlernbar ist Literatur ohnehin nicht, sondern nur Ausdruck überragenden Genies) und man ist überhaupt etwas zu verkrampft. Thematisch sind wir ohnehin stehengeblieben. Wir schreiben – in der Hoffnung auf einen vermeintlichen Literaturpreis – auch heute noch gerne über Frontlinien, Nazis, Trümmerjungen, jüdische Ghettos und Nachkriegstraumata, aber zu wenig über die Dinge, die den Leser des 21. Jahrhunderts interessieren.

Pia Ziefle: Mein Einblick in die britischen Gewohnheiten, Bücher im deutschen Original zu lesen, sind limitiert – umgekehrt erlebe ich es sehr oft. Und dann sind da die Stoffe… da gebe ich Sean recht. Vielleicht sind wir Deutschen in der Tat ein wenig – eingetrocknet und zu wenig überraschend. Ohne jemandem zu nahe treten zu wollen damit.

Fabelhafte Bücher: Wir bedanken uns herzlich für das Gespräch.