Rezension von Roman

Der Literaturprofessor Samuel Anderson, Ende dreißig, verbringt seine gesamte Freizeit mit einem Computerspiel namens World of Elfscape. Noch immer trauert er einer unerfüllten Jugendliebe hinterher und versucht zu verarbeiten, dass seine Mutter ihn als Kind verlassen hat und einfach verschwunden ist. Eines Tages erhält er den Anruf einer Anwaltskanzlei in Chicago. Seine Mutter habe den Präsidentschaftskandidaten der Republikaner mit Steinen attackiert und brauche dringend seine Hilfe…

Als er einen Blick in die Nachrichten wirft, stellt er fest, dass über nichts anderes mehr berichtet wird. Seine Mutter, heißt es in den Nachrichten, sei eine radikale Liberale, die schon 1968 als Studentin in die Proteste von Chicago verwickelt gewesen sei. Samuel Anderson kann das alles kaum glauben. Weder wusste er, dass seine Mutter jemals studiert hat noch scheinen die Nachrichtenmeldungen irgendwie in ihr Charakterprofil zu passen. Mit der Unterstützung eines Gamers aus der World of Elfscape begibt er sich auf eine Spurensuche in die Vergangenheit.

Nathan Hill, geboren 1976, hat mit „Geister“ im Herbst 2016 sein Romandebüt veröffentlicht. Es ist ein epischer Gesellschafts- und Familienroman geworden, der die Zeit von den Studentenunruhen 1968 bis zur Rezession von 2011 spannt und dabei eine durchdachte, sehr aktuelle Medienkritik formuliert. Grundsätzlich schwankt die Darstellungsweise des Romans immer wieder zwischen Realismus und satirischer Überspitzung. Um seinen vielen unterschiedlichen Charakteren und Themen gerecht zu werden, bedient sich Hill im Laufe der rund 850 Seiten ganz unterschiedlicher Stilistiken und Erzählperspektiven.

So gibt es beispielsweise ein Kapitel, in welchem Samuel Anderson in seinem Büro mit einer uneinsichtigen Studentin diskutiert, die er gerade des Plagiats überführt hat. Jedem logischen Fehlschluss in der Argumentation der Studentin ist ein eigenes Unterkapitel gewidmet, in dessen Überschrift der Fehlschluss definiert wird. An anderer Stelle verwandelt sich der Text in eines der Abenteuer-Spielbücher, die Samuel Anderson als Kind so gerne gelesen hat. In Spielbüchern ist der Leser die Hauptfigur und kann am Ende eines Abschnitts normalerweise wählen, wie die Geschichte weitergeht. Hill greift dieses Konzept auf und nutzt es metaphorisch für Reflexionen über die Freiheit des Willens. Bei ihm wird der Leser am Ende eines Abschnitts zunächst immer nur auf den nächsten verwiesen, ihm bleibt keine Wahl. Alle Geschehnisse scheinen also von vornherein festgelegt, bis dann, am Ende des Experiments, tatsächlich das erste Mal eine Entscheidung möglich wird. Ein drittes bemerkenswertes Kapitel besteht fast nur aus einem einzigen Satz, der sich aber über 17 Seiten erstreckt. In diesem einen Satz werden, wahrscheinlich das erste Mal in der Literatur, die psychischen und physischen Konsequenzen exzessiver Computerspielsucht radikal ausgeführt.

Bei all diesen literarischen Experimenten und dem Anspruch eines psychologischen, philosophischen und sozialhistorisch erhellenden Romans bleibt „Geister“ aber durchgängig eine fesselnde, niedrigschwellige und sehr unterhaltsame Lektüre. Gelegentlich hat mich die Erzählerstimme gestört, die dem Leser das Beschriebene noch einmal gesondert erklären muss und wertend einschreitend. Auch wirken manche Lösungen von existenziellen Konflikten in dem Roman etwas zu vereinfachend und geglättet, was sich mit der sonst meist realistischen Erzählweise schwer vereinen lässt.

Demgegenüber steht aber Hills unglaubliches Erzähltalent, seine Fähigkeit, unglaublich komische Szenen und Dialoge zu schreiben und seine an Charles Dickens erinnernde, scheinbar grenzenlose Fabulierlust, die diesen Debütroman zu einer wahren Entdeckung machen.

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Daten

Originaltitel: The nix

Verlag: Piper

Erscheinungsjahr: 2016

Übersetzung: Werner Löcher-Lawrence und Katrin Behringer