Rezension von Ramon

Zu Beginn der 1990er Jahre wurde im US-amerikanischen Bundesstaat Arizona ein gläserner Gebäudekomplex errichtet mit der Zielsetzung, auf einer Fläche von 1,6 Hektar ein sich selbst erhaltendes, von der Umwelt vollständig autonomes Ökosystem zu schaffen. In einem ersten Versuch wurden vier Teilnehmerinnen und vier Teilnehmer für zwei Jahre in dem Gebäudekomplex eingeschlossen. Sie sollten erproben, ob es möglich ist, in diesem künstlichen Ökosystem zu überleben, ohne Luftaustausch mit der Außenwelt oder externer Zufuhr von Gütern. Die Nasa versprach sich von dem Projekt unter anderem wichtige Erkenntnisse im Hinblick auf potenzielle bemannte Basen auf dem Mars und Langzeitreisen im Weltraum.

Von der Presse wurde das Experiment häufig als gescheitert betrachtet, da man während des Versuchs immer wieder aus Sicherheitsgründen die Luftschleuse nach Außen öffnen musste. In seinem neuen Roman greift T.C. Boyle diese Ereignisse auf und schickt Mitte der 1990er Jahre eine zweite Mission ins Rennen. Die Bedingungen sind die gleichen wie bei dem historischen Versuchsablauf: Vier Frauen, vier Männer, allesamt Wissenschaftler mit unterschiedlichen, für das Experiment notwendigen Kompetenzen, zwei Jahre eingeschlossen in einem Glasbau, der auf engstem Raum die unterschiedlichsten Biome miteinander vereint: Wüste, Savanne, Regenwald, Ozean und Marschlandschaft.

Die Leitfrage des Romans: Was passiert, wenn diesmal alle Beteiligten des Projekts wirklich fest entschlossen sind, die Schleuse zur Außenwelt zwei Jahre lang nicht zu öffnen?

Erzählt wird aus der Perspektive von drei am Projekt beteiligten Menschen. Zwei davon, Ramsey und Dawn, gehören zu den Eingeschlossenen. Die dritte Erzählerin, Linda Ryu, war eine der sechzehn Qualifikanten für die Mission und während dieser Zeit die beste Freundin von Dawn. Sie wurde aber nicht ausgewählt und arbeitet nun stattdessen in der Kontrollstation. Mit Dawn und Ramsey hat sich T.C. Boyle bewusst dafür entschieden, aus der Perspektive jener Eingeschlossenen zu erzählen, die ihre persönlichen Bedürfnisse am Schlechtesten im Zaum halten können und damit zum Auslöser der meisten Konflikte innerhalb des Teams werden.

Und Konflikte sind natürlich vorprogrammiert: Acht Menschen auf engstem Raum, die den ganzen Tag in den Habitaten hart arbeiten müssen, um die Infrastruktur inklusive der Selbstversorgung mit immer knapper werdenden Lebensmitteln aufrecht halten zu können und die nahezu keinerlei Privatsphäre genießen. Bis auf das Haus, in dem jeder über ein kleines, nicht abschließbares Zimmer verfügt, ist der gesamte Komplex videoüberwacht und ständig glotzen Außenstehende, meist eigens dafür angereiste Touristen, durch die Glaswände herein.

Von Anfang an ist das Projekt also eine Mischung aus Wissenschaft und Theater, das auch voyeuristische Publikumsbedürfnisse befriedigt. Boyles erzählerisches Interesse verlagert sich von der naturwissenschaftlichen Frage, ob es möglich ist, künstlich eine zweite Erde zu schaffen, relativ schnell zum soziologischen Aspekt des Experiments.

Wie halten es Menschen auf engstem Raum und unter enormem Druck stehend miteinander aus, Menschen, die vom wissenschaftlichen Wert eines Projekts überzeugt sind und es gleichzeitig publikumswirksam verkaufen müssen? Als eine der Teilnehmerinnen schwanger wird, fokussieren sich die Medien ausschließlich auf ihre Person und damit den Theateraspekt des Experiments, was naturgemäß zu Spannungen innerhalb der Gruppe führt…

Während zwei der Erzähler über ausgeprägte manipulative Fähigkeiten verfügen und vor den Projektleitern katzbuckeln, ist die dritte Erzählerin zwar sehr offen und ehrlich gegenüber anderen, allerdings vermischt sich ihre Naivität auch mit einer ausgeprägten Selbstbezogenheit, die sie nicht sympathischer erschienen lässt. Anhand der Erzähler Ramsay und insbesondere Linda schafft es Boyle, den Prozess des Sich-selbst-etwas-einredens hervorragend darzustellen, den gerade manipulative Persönlichkeiten benötigen, um sich und ihr Handeln ins Recht zu setzen.

Die Pointen in „Die Terranauten“ sind manchmal etwas zu vorhersehbar, so wie auch der Klappentext schon den wesentlichen Inhalt des Romans zusammenfasst (anders als in dieser Rezension wird etwa schon verraten, welche der Teilnehmerinnen schwanger wird), auch hätte es dem Roman gut getan, wenn er um 100 bis 150 Seiten gekürzt worden wäre. Grundsätzlich schätze ich wildwüchsige Fabulierlust und Binnenhandlungen, allerdings hatte ich bei diesem Roman gelegentlich das Gefühl, dass einzelne Motive schlicht wiederholt werden, ohne von einer neuen Seite betrachtet zu werden.

Auch wenn sich dadurch in der Mitte des Romans einige Momente der Langeweile ergeben, schafft es Boyle insgesamt, seine Stärken auszuspielen: Plastische Figuren und ein faszinierendes Thema, das gut recherchiert ist und satirisch leicht zugespitzt bearbeitet wird. Damit ist „Die Terranauten“ insgesamt ein gelungener Unterhaltungsroman.

Daten

Originaltitel: The Terranauts

Verlag: Hanser

Erscheinungsjahr: 2017

Seitenzahl: 604

Übersetzung: Dirk van Gunsteren