Rezension von Ramon

Vernon Subutex, bald fünfzig Jahre alt, war bis vor einigen Jahren Inhaber des Plattenladens „Revolver“. Nachdem er den Laden dichtmachen musste, geht es immer stärker mit ihm bergab. Der Verlust seiner Jugend, seines sozialen Status (in seinem Umfeld war Plattenhändler ein prestigeträchtiger Beruf) und das Schwinden seiner Rücklagen machen ihm zu schaffen – der einstige Frauenheld vereinsamt in seiner Wohnung.

Rockkonzerte kann er sich nicht mehr leisten, außerdem würde er sich in seiner abgerissenen Kleidung unter den schicken Konzertgästen auch nicht mehr wohl fühlen: „Heute heißt es Tod den Besiegten, sogar beim Rock.“

Vernon raucht, trinkt und verdaddelt sein Leben am Computer. Innerhalb kürzester Zeit sind seine engsten Weggefährten gestorben: Krebs, Autounfall, Drogen. Die Freude an der Musik hat er weitgehend verloren, er hört weder Radio noch neue Platten, liest keine Nachrichten mehr, lenkt sich mit Fernsehserien und Pornos ab: „Er sitzt in einer bequemen Blase. Darin überlebt er wie unter Wasser.“ Die bequeme Blase platzt, als ihn der Gerichtsvollzieher aus seiner Pariser Wohnung wirft.

Über Facebook nimmt er zu Freunden und Bekannten aus besseren Tagen Kontakt auf und fragt sie jeweils, ob er eine Weile bei ihnen unterkommen kann. Er tischt den Freunden Lügengeschichten auf, weil er sich für die Wahrheit, seine existenzielle Notlage, zu sehr schämt. So hangelt er sich von Anlaufstation zu Anlaufstation um der drohenden Wohnungslosigkeit zu entgehen.

Multiple Perspektiven

An dieser Stelle fächert sich der Roman auf zu einem breiten Gesellschaftspanorama. In den folgenden, oft kurzen Kapiteln wechselt rasant die Erzählperspektive. Es wird nicht nur aus der Sicht derjenigen erzählt, bei denen Vernon vorübergehend unterkommt, sondern teilweise auch noch aus der Sicht von Bekannten der Bekannten Vernons. Da ist ein neurechter Drehbuchautor mit dominanter Frau und jeder Menge Wut im Bauch. Statt mal auf den Tisch zu hauen, frisst er alles in sich rein und entwickelt immer stärkere Ressentiments.

Da ist eine Staatsbeamtin, die früher Bassistin in einer Punkband war und von ihren alten Kumpels nicht mehr zu Konzerten eingeladen wird. Weil sie als Frau nur stört, wie sie vermutet. Da gibt es einen Mann, der immer und immer wieder seine Frau schlägt, auch wenn er es hinterher jedes Mal bereut. Der Mechanismus dieser Gewalt, der Wunsch, die Partnerin komplett zu unterwerfen, um von ihr ernst genommen zu werden, ist äußerst glaubwürdig beschrieben.

Wir erleben die Gedanken einer strengreligiösen konvertierten Muslimin, einer Obdachlosen, eines Filmproduzenten, eines gewaltbereiten Rassisten. Es geht um Generationen- und Wertekonflikte, wenn eine linke Mutter fürchtet, ihren heißgeliebten neunzehnjährigen Sohn an die Rechten zu verlieren und nicht versteht, wie es dazu kommen konnte. Auf ein Kapitel aus der Perspektive dieser Mutter folgt ein Kapitel aus Vernons Sicht, in dem die Mutter überraschend als absolute Nervensäge erscheint, die ihn permanent bevormundet und zutextet. Immer wieder im Roman kristallisieren sich durch die Perspektivwechsel eminente Unterschiede zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung heraus. Die Figuren können über andere sehr treffend und pointiert urteilen, ihr Selbstbild ist dagegen oftmals völlig verschoben.

Wir lernen also alle möglichen Menschen und Schicksale im Paris des 21. Jahrhunderts kennen und entfernen uns dabei immer wieder länger von der eigentlichen Hauptfigur. Als der Fokus irgendwann wieder auf Vernon geht, ist er, wie kaum anders zu erwarten, auf der untersten gesellschaftlichen Stufe angekommen. Ganz nebenbei erfährt der Leser das, eine Frau läuft an einem Obdachlosen auf einer Parkbank vorbei und identifiziert diesen als Vernon, den Jugendfreund ihres Sohnes.

Damit ist dieser Roman aber noch nicht vorbei, und schon gar nicht die Geschichte des Vernon Subutex, die noch in zwei Bänden fortgesetzt werden soll.

Fazit

Dieser Gesellschaftsroman lässt einen nicht kalt. Er enthält viele Sätze, die man sich unterstreichen möchte, weil sie zeitgeistliche Erscheinungen und Verhaltensmuster so auf den Punkt bringen.

Despentes Kunst liegt darin, dass sie sich in alle Figuren, auch in jene mit äußerst unsympathischen Eigenschaften, mit der gleichen Emphase hineinversetzt. Entsprechend fällt ihr Gesellschaftsportrait keinesfalls plakativ oder belehrend aus, die Konflikte einer pluralen Gesellschaft werden nicht einseitig abgebildet. So kann auch der Leser gar nicht anders, als sich vom eigenen Nabel zu entfernen. Nicht zuletzt sensibilisiert der Roman für das Thema Obdachlosigkeit. Wer sich in der Großstadt angewöhnt hat, das Elend auf den Straßen komplett zu ignorieren, wird das nach der Lektüre wahrscheinlich nicht mehr können.

Daten

Virginie Despentes: Das Leben des Vernon Subutex

Originaltitel: Vernon Subutex

Bestseller in Frankreich

Verlag: Kiepenheuer & Witsch

Erscheinungsjahr: 2017

Seitenzahl: 400

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz