Rezension von Ramon

Am ersten Januar des Jahres 1900 trifft der aus Minsk stammende jüdische Auswanderer Isaac Reznikoff im Hafen von New York ein. Hier begegnet er einem anderen russischen Juden, der ihm die Annahme eines amerikanischen Namens empfiehlt, um es in der neuen Heimat leichter zu haben. Da Reznikoff über keinerlei Englischkenntnisse verfügt, bittet er den anderen um einen Namensvorschlag. Rockefeller, wird ihm geraten, damit könne man nichts falsch machen. Doch als ihn später der Einwanderungsbeamte nach seinem Namen fragt, entgegnet der übermüdete Reznikoff: „Ich hob fargessen“, woraufhin er seine amerikanische Existenz mit dem Namen Ichabod Ferguson beginnt.

Er schlägt sich als Hilfsarbeiter durch, heiratet und zeugt drei Söhne. Den größten Ehrgeiz zeigt der jüngste dieser Söhne, Stanley Ferguson. Er macht sich mit einer kleinen Radioreperaturwerkstatt selbstständig, aus der mit der Zeit ein großes Geschäft für Möbel- und Haushaltsgeräte wird. Schließlich heiratet Stanley Ferguson die schöne Rose Adler, ebenfalls Tochter von Immigranten, die als Assistentin bei einem Porträtfotografen arbeitet. Im Jahr 1947 kommt ihr gemeinsamer Sohn Archie Ferguson zur Welt.

Nach diesem Prolog beginnt die eigentliche Geschichte, die Geschichte von Archie Fergusons Kindheit, Jugend und seiner Zeit als junger Erwachsener. Genauer gesagt, beginnen an dieser Stelle die Geschichten von vier verschiedenen Archie Fergusons, denn in seinem neuen, fast 1300 Seiten umfassenden Roman bietet Paul Auster in jedem der sieben langen Kapitel jeweils vier Möglichkeitsebenen an. Dies führt anfangs noch zu Irritationen, wenn Ferguson immer wieder Charaktere begegnen, die auf der Realitätsebene des letzten Unterkapitels schon tot waren, einen anderen Partner hatten oder im Gefängnis sassen. Man gewöhnt sich aber erstaunlich schnell daran, nicht zuletzt, weil sich mit fortschreitender Handlung Charakterzüge und Lebensläufe der vier Fergusons auszudifferenzieren beginnen.

Was formt einen Charakter?

Diese Ausdifferenzierung wird von einer Reihe von Faktoren beeinflusst. Erstens Fergusons Bezugspersonen und seine ökonomische Lage: Gibt es Menschen, die Fergusons Talente fördern, in wen verliebt er sich und mit wem kommt er zusammen, welche Freunde hat er? Wird der Vater ein erfolgreicher Unternehmer oder brennt sein Laden ab und er nimmt eine einfache Anstellung an? Wird die Mutter Hausfrau oder Fotografin und falls sie Fotografin wird, hat sie in ihrem Beruf Erfolg? Bleiben die Eltern zusammen oder trennen sie sich, und falls sie sich trennen, heiratet seine Mutter erneut und mit welchem Stiefvater wächst Ferguson dann auf?

Schon die Menschen in Fergusons Umfeld sind also jeweils unterschiedlichen dichterischen Fügungen unterworfen und haben entsprechend unterschiedlich akzentuierte Persönlichkeiten. Dadurch ist das Verhältnis Fergusons zu seinen Eltern auch in jeder erzählten Variante anders.

Zweitens einschneidende Erlebnisse, etwa Gewalterfahrungen, ein Autounfall oder der Tod des Vaters.

Drittens die Zeitgeschichte. „4321“ ist auch ein Roman über die 50er und 60er Jahre in den USA: Die Hinrichtung der Rosenbergs, eines US-amerikanischen Paars, dem Rüstungsspionage für die Sowjetunion vorgeworfen wurde, der Koreakrieg, der Vietnamkrieg und die Rassen- und Studentenunruhen der 60er Jahre, die Beteiligung universitärer Forschungsinstitute am Vietnam-Krieg (beispielsweise bei der Entwicklung von Agent Orange oder der Taktik des Flächenbombardements) und am Ende die Enthüllung des Counter-Intelligence Program des FBI durch die New York Times, die erzählerisch ein endgültiges Ende der amerikanischen Unschuld markiert. All diese zeitgeschichtlichen Hintergründe verweben sich jeweils unterschiedlich mit den Biografien der vier Fergusons.

Viertens die konsumierte Kultur. So listet Auster penibel alle Bücher, Filme, Ausstellungen Musiker und Komponisten auf, mit denen Fergusons jeweils in Berührung kommt. Darüber hinaus werden aber auch viele zunächst unwichtig erscheinende Details breit beschrieben, etwa ein Aushilfsjob Fergusons als Möbelpacker. Doch auch solche Arbeitserfahrungen prägen nun einmal die Biografie. Gerade weil jede Lebensphase Fergusons ähnlich umfangreich und mit der gleichen Aufmerksamkeit und Detailverliebtheit beschrieben wird, ergeben sich am Ende vier sehr realistische Charakterbilder.

Vier gleichberechtigte Realitäten

Die Frage „wäre mein Leben wohl anders verlaufen, wenn…“ hat sich sicherlich jeder schon einmal gestellt. Während die Frage in der Wirklichkeit spekulativ bleiben muss, wird sie in Austers Roman beantwortet. Mit fortschreitender Lektüre entfaltet der Roman so eine besondere Magie – sie resultiert aus der neuen Erfahrung, dass man es eben nicht mit einer Wirklichkeit plus Träumereien zu tun hat, sondern mit vier exakt gleichberechtigten Realitäten.

So erleben wir je nach Zusammenspiel der oben genannten Faktoren einen Ferguson, der in der Schule scheitert oder brilliert, der Freunde hat oder sich von anderen abkapselt, der politisiert wird oder sich stärker für Sport und Filme interessiert, der ehrgeizig ist oder eher ambitionslos bleibt, an sich selbst zweifelt oder glücklich ist. Bei all diesen Differenzen stellt sich aber heraus, dass es auch einen unveränderlichen Charakterkern gibt, bestimmte Vorlieben, Talente und Eigenschaften, die sämtliche Fergusons teilen. Dazu gehört die Liebe zur Sprache. Jeder Ferguson hat eine Begabung für das Schreiben, ob er nun Filmkritiken schreibt oder Reportagen, Übersetzungen anfertigt oder Romancier wird. Entsprechend gibt es in „4321“ auch viele Geschichten-in-der-Geschichte, Wiedergaben oder Zusammenfassungen von Ferguson verfasster oder übersetzter Texte. Die Vermutung liegt nahe, dass sich in allen Fergusons auch biografische Spuren des gleichfalls 1947 geborenen Paul Auster finden lassen.

Das Beste an diesem erst mal recht artifiziell anmutenden Konzept ist, dass der – ansonsten ganz klassisch erzählte – Roman an keiner Stelle kalkuliert wirkt. Schönes, etwa Fergusons Liebesbeziehung zu Amy, vermag Auster mit der gleichen poetischen Kraft zu beschreiben wie Schreckliches, beispielsweise wenn der gottverlassene Ferguson III so weit unten angekommen ist, dass er sich prostituiert.

Fazit

Wie angeboren ist der Kern unseres Wesens, welchen Spielraum gibt es, den Determinismen unserer Herkunft zu entkommen, welche Macht haben Willkür und Zufall über uns? Dieses Thema hat Paul Auster schon in früheren Büchern beschäftigt, doch „4321“ ist zweifellos sein Opus Magnum geworden, ein meisterhaft durchkomponierter Roman, den man nach dem Zuklappen gleich ein weiteres Mal lesen will, um die vielen Details, Raffinessen und Zusammenhänge aufzuspüren, die einem bei der ersten Lektüre womöglich noch entgangen sind. Der Einstieg in den Roman mag ein bisschen Geduld erfordern, doch wer durchhält, wird reich belohnt.

Daten

Originaltitel: 4321

Verlag: Rowohlt

Erscheinungsjahr: 2017

Seitenzahl: 1258

Übersetzung: Thomas Gunkel, Werner Schmitz, Karsten Singelmann und Nikolaus Stingl