Rezension von Ramon

Der zweite Roman über das Leben des ehemaligen Plattenladenbesitzers Vernon Subutex knüpft nahtlos an den ersten an. Die Autorin führt nicht nur viele Handlungsstränge aus dem vorigen Band konsequent zusammen, sondern erweitert die multiperspektivische Erzählweise gleichzeitig auch noch äußerst souverän um zahlreiche neue Figuren, aus deren Sicht geschildert wird.

Am Ende des ersten Bandes war Vernon Subutex, der ehemalige Besitzer des Plattenladens Revolver, in der Obdachlosigkeit angekommen. Auf der Straße lernt er nun Laurent und Charles kennen, einen Obdachlosen und einen alten Trinker.

Mittlerweile sind immer mehr Menschen auf der Suche nach Subutex. Einige alte Freunde machen sich Sorgen um ihn, schämen sich mittlerweile, ihm die Unterkunft verwehrt zu haben, andere sind auf der Jagd nach einem mysteriösen Videoband in Subutex‘ Besitz, auf welchem ein Abend in der Wohnung des kurz darauf verstorbenen Rockstars Alex Bleach festgehalten ist. An diesem Abend plauderte Bleach ein Geheimnis aus, das er bisher für sich behalten hatte und in dem eine unter ominösen Umständen verstorbene ehemalige Pornodarstellerin namens Vodka Satana eine Rolle spielt. Aus diesen Gründen ist sowohl deren rachsüchtige und streng muslimische Tochter hinter dem Video her als auch eine Privatdetektivin, die das Video im Auftrag eines mächtigen Produzenten aus dem Verkehr ziehen soll.

Nachdem sie Subutex gefunden haben, bieten ihm einige Freunde eine Wohnung an, doch der hat sich an das Leben auf der Straße gewöhnt und lehnt alle Angebote ab. Daraufhin, der Sommer beginnt gerade, beschließt man, ihn wenigstens zu besuchen. Die Parkbank auf der er schläft wird zu einem Treffpunkt. Um ihn herum entsteht ein Begegnungsraum für die gegensätzlichsten Menschen – Obdachlose und Gutsituierte, ehemalige Kunden seines Plattenladens, Rechte und Linke, Bürgerliche und Ausgestoßene.

Schon in seinem Plattenladen sorgte Subutex dafür, dass jeder sich einzigartig und ernst genommen fühlte. Jetzt, als Obdachloser, der sich aller Zwänge entledigt hat, wird er für ganz unterschiedliche Menschen zu einer Art Erlöserfigur, die es geschafft hat, sich von den Erwartungen und Urteilen der anderen zu befreien. Der Kreis um Subutex wird zunehmend konspirativer, nachdem man beschlossen hat, ein begangenes Unrecht zu rächen…

Virtuos erzählt Despentes die Ereignisse abwechselnd aus der Perspektive sämtlicher Figuren. So gelingt es ihr, viele gesellschaftliche Diskurse in ihrer ganzen Vielstimmigkeit abzubilden. Obwohl die Autorin in der Öffentlichkeit durchaus sehr klare und streitbare politische Positionen vertritt, macht sie ihre Figuren nicht zu ihrem Sprachrohr und betreibt auch keine „didaktische“ Sympathielenkung. Die Linken werden bei ihr nicht zu Pro- und die Rechten nicht zu Antagonisten. Sie versetzt sich in alle Figuren mit der gleichen Emphase. Dies spricht unbedingt für ihre Qualität als Schriftstellerin.

An aktuellen Bezügen mangelt es dem Roman wahrlich nicht, darunter auch solche, die zum Zeitpunkt der Romanentstehung noch gar nicht in diesem Ausmaß absehbar waren. Da ist beispielsweise ein Filmproduzent namens Dopalet, ein in jeder Hinsicht übergriffiger Machtmensch. Die Kapitel aus seiner Perspektive sind auf erschreckende Weise gut geschrieben. Seine verschobene Wahrnehmung, sein fehlendes Schuldbewusstsein und sein „gerechter Zorn“ auf die Menschen, die unter ihm leiden, wirken absolut authentisch.

Unbedingt erwähnt werden muss noch die Unvorhersehbarkeit der Handlung. Dieser zweite Band steuert die Geschichte in eine Richtung, die wirklich nicht zu erwarten war. Umso schwerer fällt das Warten auf den abschließenden Roman der Trilogie, der im September 2018 erscheinen wird. Am Ende des ersten Bandes war Subutex auf dem absoluten Tiefpunkt seines Lebens angelangt. Der zweite Band endet in einer ganz anderen Stimmung, allerdings gibt es noch viele offene Handlungsfäden, die auch in einer Katastrophe münden könnten. So ist noch völlig offen, wie die Geschichte um das Leben des Vernon Subutex ausgehen wird.

Diese Fortsetzung konnte die nach Lektüre des ersten Bandes geweckten Erwartungen jedenfalls noch übertreffen.

Daten

Virginie Despentes: Das Leben des Vernon Subutex 2

Originaltitel: Vernon Subutex 2

Verlag: Kiepenheuer & Witsch

Erscheinungsjahr: 2018

Seitenzahl: 395

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz