Rezension von Beste Bücher

Er ist der Hannibal Lecter der Filmbranche: Stanislas Cordova. Cordova ist Regisseur und Drehbuchautor von Horrorfilmen, die Steven Kings Geschichten aussehen lassen, wie lahme Kindermärchen. Die verstörendsten Szenen, so berichten seine aufgebrachte Kritiker, sind Dokumentaraufnahmen, keine Fiktion. Umstritten ist er, wie sonst nur Diktatoren: Seine Fans sind seine Jünger, selbst Morde werden im Namen seiner Filme verübt. Seine Gegner hingegen möchten ihm Berufsverbot auferlegen, ihn gar „vernichten“, so wie der ehemalige Starjournalist Scott McGrath, der nach einer Auseinandersetzung mit dem mächtigen Cordova alles verlor: Geld, Job, die Familie.

Wer einmal einen Cordova-Film gesehen hat, ist unweigerlich traumatisiert. Er betritt keinen dunklen Raum mehr, weigert sich, über das Gesehene zu sprechen. Schauspieler, die an seinen Filmen mitwirken, sind später in ihrer Persönlichkeitsstruktur verändert. Nur noch die älteren Filme sind frei erhältlich, die neueren sind allesamt illegal. Eine private Stiftung bemüht sich, alle illegal erhältlichen Kopien der Werke aufzukaufen und zu vernichten. Der Meister selbst wurde nie wirklich fotografiert, die letzten Fotografien auf denen sein Gesicht wenigstens undeutlich zu sehen ist, stammen aus seiner Jugend. Eine Legende, ein Mythos, ein Monster – jede Fraktion hat ihre Sichtweise auf den Regisseur, der die Psyche seiner Zuschauer stets frontal angreift.

Wozu das alles? Nur wer zu Tode erschrocken wurde, so Cordova, kann seine Freiheit erlangen. Mit dieser Philosophie findet er überall auf der Welt Anhänger, die sich „Cordoviten“ nennen und einen Kult um ihr Idol inszenieren.

Die zweite Hauptfigur, gewissermaßen Cordovas Gegenspieler, ist der schon erwähnte McGrath. Das er schon alles verloren hat, macht den intelligenten und verbissenen Journalisten zum idealen Gegner: Er hat nur noch wenig zu verlieren, doch alles zu gewinnen. Überdies hat er mit Cordova eine Rechnung offen. An seiner Seite zwei „Sidekicks“; Ein junger Mann namens Hopper und eine 19-jährige, Nora, die ihm praktischerweise auch im Bett zur Seite steht. Beide bringen natürlich ihre eigenen Geheimnisse mit in die Story.

Die Geschichte entlädt sich am Selbstmord von Cordovas talentierter, schöner Tochter. Ashley. Jedenfalls hat es den Anschein von Selbstmord, als sie eines Tages am Boden eines Aufzugschachtes gefunden wird. McGrath und seine Begleiter forschen und befragen in den unwahrscheinlichsten Winkeln New Yorks und nähern sich dabei, Mosaikstein für Mosaikstein, ihrer Beute. Spät erst merken sie, dass sie selbst gejagt werden. Auf achthundert Seiten ziehen sich die Fäden immer weiter zusammen – schließlich wagt McGrath mit seinen Mitstreitern, was noch niemand zuvor folgenlos gelungen ist: Sie dringen auf das festungsgleiche riesige Anwesen des Meistern und werden schon erwartet…

Rezension:

Pessl_Marisha

Marisha Pessl / Foto: privat

Mit „Die amerikanische Nacht“ gelingt Marisha Pessl nun offenbar der zweite Bestseller nach ihrem Debüt „Die alltägliche Physik des Unglücks“, das vor Jahren weltweit, auch in Deutschland, ein gefeierter Publikumserfolg war. Das ist allerdings auch die einzige Gemeinsamkeit – weder thematisch noch stilistisch knüpft Pessl am Vorgängerwerk an und zeigt damit ihr schriftstellerisches Talent.

Ihr Stärke ist dabei weniger der Schreibstil – die Sätze wirken eher mitunter etwas abgehakt. So, als ob der erste Entwurf einfach stehen gelassen wurde. Umso stärker ist der Plot. Pessl erweist sich als eine Meisterin der Architektur. Jedes Detail scheint von Bedeutung und doch dürfte es auch für die erfahrensten Thriller-Leser schwer sein zu erraten, was ihn um die nächste Biegung erwartet. Stark ist die Autorin auch in ihrer schöpferischen Kraft. Vor dem Auge des Lesers entstehen neue, fantasievolle Welten.  Und noch ein Element ist einigermaßen neu bei Pessl: Die eingeschobenen Zeitungsmeldungen und Blogauszüge, die zwischendurch quasi-objektiv Fakten einstreuen. Zwar finden sich solche Elemente auch bei anderen Autoren, doch eher vereinzelt und inkonsequent. Das erinnert an die berühmten Fußnoten, die man – für Romane ja nun eher untypisch – im Debütroman der Schriftstellerin vorgefunden hatte.

Was die Kritiker bislang so schreiben – von der FAZ bis zum britischen Guardian – lässt die New Yorker Schriftstellerin eher schlecht aussehen. Die Damen und Herren rümpfen die feinen Kritikernäschen angesichts des manchmal hölzernen Stils der Schriftstellerin und finden auch sonst allerlei zu bemängeln. Doch die Leser haben ein groberes Kernkriterium: Die Spannung. Und spannend, dass muss man dem Werk lassen, ist es allemal. Was die Kritiker übersehen: Der Roman kann nur sinnvoll an seinem Genre gemessen werden. Und gemessen an anderen Thrillern, die ohne blutrünstige Serienmörder, Augen ausstechen und Gruppenvergewaltigungen häufig schon gar nicht mehr auskommen, ist dieser – letztlich gewaltarme Plot – um Klassen intelligenter. 

„Die amerikanische Nacht“ hat durchaus das Potenzial, der große Noir-Roman des Jahrzehnts zu werden. Für Cineasten eine Freude: Anspielungen auf dutzende Filme – einige offenkundig, andere nur echten Filmliebhabern zugänglich – sind konsequent im ganzen Buch eingestreut.

Infos:

  • Der Fischerverlag hat exzellentes Marketing betrieben und deutschsprachige Bücherblogs einmal mehr hinterhältig einbezogen: Siehe Artikel
  • Website von Marisha Pessl
  • Pessls Debütroman gelangte auf die New York Times – Bestsellerliste und wurde in 30 Sprachen übersetzt. Die Schriftstellerin erhielt viel Lob, wurde jedoch auch als „zu perfekt“ und „besserwisserisch“ beschrieben

 Marisha Pessl im CBS-Interview:

Unsere Bewertung:

Spannung: 5

Lesefreundlichkeit: 5

Ratgeber: 1

Muss-man-gelesen-haben: 3 (Wenn man ein Thrillerfan ist: 5)

Allgemeinbildung: 3

(1= Kaum zutreffend / 5 = Besonders zutreffend)