Rezension von Johannes Burkart (B.Sc.) alias OhrAkel

Informativ, robust, dick und blau

Die Autoren des Lehrbuchs „Hörakustik – Theorie und Praxis“ hatten sich als Ziel gesetzt einen umfassenden Wissensfundus bereitzustellen, in dem die theoretischen Grundlagen der HörAkustik als auch Antworten auf spezielle Fragestellungen aus der täglichen Praxis behandelt werden. Mit einem Gewicht von ca. vier Kilogramm, einem robusten blauen Hardcover und sechs Zentimeter dicken Buchrücken wird ein Wissensschatz auf rund 1.400 Seiten, im DIN A4 Format, gebündelt. Es werden 55 Themengebiete mit allen relevanten Themen der HörAkustik von Medizin bis Zubehör behandelt. Eine derartige Zusammenschrift ist derzeit einzigartig. Aus diesem Grund umwerben die Autoren das Lehrbuch im online Fachforum mit den Worten „die blaue Bibel“ (Hörbert, 2012).

Die Autoren

Dipl.-Phys. Dipl.-Ing. Jens Ulrich (alias Biba-Butzemann), Jahrgang 1949, hat Elektrotechnik mit der Fachrichtung Regelungs- und Datentechnik an der Technischen Universität in Darmstadt studiert. Nach Abschluss als Dipl.-Ing. studierte er als Ergänzung Physik an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Sodann trat er in die elterliche Firma ein (Ulrich, 2001). Nach absolvierter Lehre als Augenoptiker legte er 1982 die Meisterprüfung in diesem Handwerk in München ab (Ulrich, 2001).

Im Jahre 1998 erlangte Herr Ulrich zusammen mit seinem Sohn den Meistertitel im Elektrotechnikerhandwerk und wendete sich danach der Hörgeräteakustik zu. Dies stellt den Beginn der gesammelten Unterlagen rund um das Hörgeräteakustikerhandwerk dar. Die ersten Lehrbücher entstanden als Prüfungsvorbereitung auf der Grundlage eines Meistervorbereitungskurses für das Hörgeräteakustikerhandwerk 1999 in Lübeck. So konnte Herr Ulrich eine Meistergleichstellung als Hörgeräteakustiker erlangen (Ulrich und Hoffmann, 2011).

Prof. Dr. med. Eckhard Hoffmann (alias Hörbert), Jahrgang 1964, hat Humanmedizin in Gießen studiert, promoviert und bis 2011 als Dozent für Audiologie und HörAkustik an der Hochschule praktiziert. Veröffentlichungen in Form von Bücher und Artikel zu Themen wie „Hörfähigkeit und Hörschäden junger Erwachsener“ oder „Der Einfluss von Popmusik auf das Gehör und Konsequenzen für die Prävention von Hörschäden“ zählen unter anderem zu seinen Werken (Hebeisen, 2011).

Lobenswertes

HörakustikDas Lehrbuch motiviert durch die leicht verständliche Formulierung zum Lernen und animiert zum Weiterlesen. Einzelne Abschnitte in den Kapiteln sind wohlwissend mit dem Hinweis „Experten Wissen“ gekennzeichnet. Da bei diesen Ausführungen das Verständnis für die Materie vertieft wird und über das übliche Lehrlings- und Meisterwissen hinausgeht. Anschauliche Arbeitsanweisung in Form von Flussdiagrammen, wie beispielsweise der „Anpasspilot“ oder die Fehlersuche am Hörsystem, vereinfachen zusätzlich komplexe Sachverhalte.

Der didaktische Aufbau der einzelnen Kapitel, welche jeweils für sich eine inhaltlich abgeschlossene Einheit bilden, ermöglicht dem interessierten Leser einen gut aufbereiteten Zugang zu den einzelnen Themenbereichen. „Der rote Faden“ zieht sich durch die eng miteinander verknüpften Themen. Auch die von den Autoren gesetzten Querverweise ermöglichen einen schnellen Zugriff nach passenden Textabschnitten, welche bei Interesse tiefer in die Theorie einstiegen bzw. die praktische Anwendung der theoretischen Prinzipien vermitteln. Bei diesem Lehrbuch wird weit mehr als bloße Theorie vermittelt.

Beide Autoren beleben Ihre Ausführungen mit lebendigen Lernerfahrungen und praktischen Vergleichen wie beispielsweise das Deuten von Kundenaussagen während einer gängigen Feinanpassung bei der Beschreibung des Klangbildes mit einem Hörgerät: „Scharf, hart, metallisch“. Es werden „Beanstandungen und mögliche Ursachen“ in Bezug auf die Verstärkung in Abhängigkeit zur betroffenen Frequenz, in diesem Fall die 3.200 Hz, dargestellt. Überwiegend wurden die Beiträge, Informationen und Abbildungen im engen Austausch zu den Herstellern, Ausbildungsstätten wie der Hochschule, den Meisterschulen und der Landesberufsschule für Hörgeräteakustiker zusammengestellt. Dozenten, Lehrlinge, Meisterschüler als auch HörAkustikStudenten formten das Lehrbuch mit und trugen zur Benutzerfreundlichkeit bei.

Kritikpunkte

Den standardisierbaren Patienten gibt es aktuell nicht und wird es auch in Zukunft immer weniger geben. So prägt sich meiner Erfahrung nach in der täglichen Praxis zunehmend die Herausforderung einer optimalen Anpassung von bimodal versorgten Patienten heraus. Kunden sind nicht mehr nur darauf angewiesen, dass die binauralen Aspekte bei der Feinanpassung dem Praktiker geläufig sind, sondern auch das Zusammenspiel zwischen verschiedener Hörtechniken wie beispielsweise einem Hörgerät und einem Cochlea-Implantat (CI) vertraut sein müssen. Beide Themenbereich wie „Binaurale Aspekte der Feinanpassung“ sowie das CI werden im Lehrbuch zu unausführlich behandelt. Im Kontext der binauralen Hörgeräteanpassung wird darauf hingewiesen, dass „das zweite Gerät wie das bereits angepasste Gerät in der Messbox voreingestellt“ werden soll.

Weiter wird ohne eingehende Erläuterung hingewiesen, dass ein „Abgleich der Einstellungen zwischen beiden Hörsystemen besonders wichtig“ sei und sich die Hörfeldskalierung als sehr Hilfreich erweisen würde. Eine Frequenz-Dynamik-Anpassung an der Messbox liegt nun rund zwanzig Jahre zurück und gehört nicht mehr zu der heutigen Anpassmethodik. Eine seitengetrennte Hörfeldskalierung mit einem offenen Kopfhörer (Tipp: Acousticon ACAM A 1000) stellt tatsächlich eine Möglichkeit des interauralen Abgleichs dar, jedoch bricht ab diesem Vermerk der Informationsfluss zu den, zuvor als wichtig angekündigten, Aspekten einer binauralen Feinanpassung ab. Der notwendige interaurale Abgleich, wie bspw. Programmwahl, Beamforming, Kompressionen oder Durchlaufzeit, bei einer bimodalen Versorgung wird gänzlich außer Acht gelassen.

In Bezug zu den Ausführungen zum Cochlea-Implantat kann allgemein festgehalten werden, dass ebenso überholte Operationstechniken einer großflächigen Felsenbein-Präparation und der Fixierung des Implantats in Form des Würzburger-Sterns nach Helms beschrieben werden. Bereits seit 2007 (Hildmann & Sudhoff, 2007) wird am Kopf des Patienten eine minimalinvasive sowie atraumatische Felsenbein-Präparationsmethode angewendet. Seit dem bildet sich postoperativ retroauriculär eine kleine Narbe und das Restgehör bleibt zudem nahezu vollständig erhalten. Das Fitting des Sprachprozessors wird lediglich mit einem Screenshot der Fittingsoftware Maestro der Firma MED-EL abgebildet. Das Profil der MCL-Schwellen zeichnet eine starke Betonung in der mediocochleären Region. Diese Anpassparameter werden im Fachkreis der Audiologen als der „Bosenberg“ tituliert und entsprechend stark kritisiert.

Der noch nicht sehr fachkundige Leser kann im Lehrbuch durch die dünnbesäte Quellenangabe kaum erkennen aus welcher Feder die zusammengetragenen Informationen stammen. Die Autorenschaft könnte seinen Ursprung aus der dem Erfahrungsschatz beider Autoren, der Lehreinrichtungen wie Lübeck oder aus einer einschlägigen Literatur haben. Im Kapitel zur Vertäubung in der Tonaudiometrie wird auf die Notwendigkeit hingewiesen, wenn mindestens ein „Lübecker Indikationskriterium“ erfüllt ist. Bei dieser Auflistung handelt es sich vielmehr um das praktische zugleich zweckmäßige Vorgehen nach Lehnhard und Laszig (2009). So bleibt auch meine Recherche noch ungeklärt, woher die Autoren die Information beziehen, dass eine Raumgröße zur Kinderaudiometrie 12 m² mit einer Dämmung von 50 dB im Bereich von 200 Hz bis 10 kHz betragen „muss“.

Im Lehrbuch werden auch gerne für einen fachkundigen Leser noch nicht vertraute Bezeichnungen, wie beispielsweise LNutz oder LRest bei der Vertäubung in der Sprachaudiometrie, verwendet. Vermeiden ließe sich diese Verständnishürde durch eine einheitliche Nomenklatur im Vergleich zu herkömmlichen Publikationen. Das Nachschlagewerk sollte sich nicht nur an den Lehrling der Landesberufsschule für Hörgeräteakustiker orientieren sondern vielmehr eine neutrale Ebene der Verständigung bieten. Das Portfolio der 55 Kapitel des Nachschlagewerks könnte um die Rahmenbedingungen einer Hilfsmittelanpassung gemäß den Vorgaben aus dem Sozialgesetzbuch, der Hilfsmittelrichtlinien, der WHO-Definitionen sowie der Hilfsmittelverordnung HMV-PG13 oder ähnlichen erweitert werden. Da die Neutralität bereits angeschnitten wurde, so ließen sich in dieser Kombination die Aufgaben sowie Anforderungen an eine gutachterliche Ausarbeitung für das Sozial- oder Amtsgericht mit aufgreifen.

Auch vorstellbar wären, Weiterbildungsmaßnahmen wie bspw. die AHAKI-Qualifizierung in der Pädakustik sowie die Themenbereiche der Kinderanpassung im Allgemeinen ausführlicher zu beschreiben. Das Buch behandelt nicht nur die Theorie sondern auch den praktischen Aspekt. So geben zwei Forenuser an, das ein Nachteil in der „Unhandlichkeit, wegen der monströsen Größe“ bestünde. „Passt so schlecht in die Schultasche“ (Fakefart, 2012). „Hörakustik 2.0 deckt neben dem Wissensdurst auch die notwendige Fitness (durch sein Gewicht) ab. Sicherlich ist es suboptimal alles in einem Band zu verfassen, weiter sind mehr als 1000 Seiten auch psychologisch nicht sinnvoll, dennoch gebe ich viel auf diesen „Wälzer“. Weiter kann es mir nicht passieren, das falsche Band einzustecken“ (Auris, 2012).

Empfohlene Zielgruppe

Ein User des online Fachforums für die HörAkustik und Audiologie formuliert die allumfassende Verwendung des Nachschlagewerks sehr treffend (ZottelHGA, 2012): „Es ist wirklich schwer an der großen blauen Bibel vorbeizukommen.“ Mit diesem Lehrbuch werden alle HörAkustiker, beginnend mit dem Lehrling bis hin zum Meisterschüler sowie praktizierenden Handwerksmeister angesprochen. Ebenso stellt es ein unverzichtbares Nachschlagewerk für Studenten der HörAkustik, Audiologen und Ingenieure im Bereich der HörAkustik dar.

Fazit

Im Ganzen überzeugt das benutzerfreundliche Nachschlagewerk durch die multidisziplinären Beiträge, Informationen, Abbildungen und den aufbereiteten Themen wie Medizin, Psychologie, Beratungs- und Verkaufspsychologie. Den Autoren ist zudem stark daran gelegen, dass es sich um ein gemeinsames Projekt für den Berufsstand der HörAkustik / Audiologie handelt und beteiligt sich aus diesem Grund rege an der Diskussionsrunde zum Thema „Die Lehrbücher diskutieren“ im online Fachforum auf den Seiten von www.akustik-ultimate.org (2016). Meine Empfehlung richtet sich an all die praktizierenden Kollegen dieser Branche, welche noch nicht die Gelegenheit hatten, aus „der blauen Bibel“ – im aufgeschlagen Zustand und ganz locker in den Händen haltend – einem wissbegierigen Zeitgenossen einen Textabschnitt daraus vorlesen zu können.

Quellen

Hebeisen, A. (2011)
Die Aufregung war umsonst, online auf den Seiten von www.derbund.ch: „http://www.derbund.ch/bern/Die-Aufregung-war-umsonst/story/29572575“

Hildmann, Sudhoff (2007)
Middle Ear Surgery, Springer Verlag.

Lehnhardt, E.; Laszig, R. (2009)
Praxis der Audiometrie, 12. Auflage, Thieme Verlag, ISBN-13: 978-3133690096.

Online im Internet (2016)
„http://www.akustik-ultimate.org/t100f57-Die-Lehrbuecher-diskutieren.html“

Ulrich, J. (2001)
Hörgeräte-Akustik: Kompendium, 1. Auflage, Acousticon Hörsysteme in Reinheim, 509 Seiten.

Ulrich, J.; Hoffmann, E. (2011)
Hörakustik 2.0 – Theorie und Praxis, 2. Auflage, DOZ-Verlag Optische Fachveröffentlichung GmbH in Heidelberg, ISBN 978-3-942873-00-0, Format DIN A4, 1.424 Seiten.