Rezension von Anastasia

Die Hand war schwarz, mit knotigen Fingern und krallenartig langen Nägeln. An jeder Fingerspitze brannte eine bleiche Kerzenflamme und von diesen Flammen stiegen kräuselnd dünne schwarze Rauchfäden auf. (Judith Rossell)

Inhalt

Stella Montgomery ist Vollwaise und lebt mit ihren drei Tanten im Hotel Majestic im englischen Städtchen Withering-by-Sea. Ihre Tage sind geprägt von langweiligen Unterrichtsstunden in gutem Benehmen und Klavierspielen, Schimpftiraden und Bestrafungen durch ihre Tanten und Spaziergängen an der Promenade. Aber manchmal gelingt es Stella auch, sich vor den Tanten und der Zofe Ada im Wintergarten des Hotels zu verstecken, um in ihrem geliebten Atlas zu lesen. So kommt es, dass sie eines Nachmittags den rätselhaften Mr Filbert dabei beobachtet, wie er ein Päckchen im Wintergarten versteckt. Als sie sich nachts aus ihrem Zimmer schleicht, um ihren Atlas zu suchen, scheint das ganze Hotel verzaubert: Alle schlafen, von den Gästen über die Zimmermädchen bis hin zum Portier. Ob das an der gruseligen Flammenhand liegt? Und dann beobachtet Stella im Wintergarten, wie eine Gruppe Einbrecher nach dem geheimnisvollen Päckchen suchen. Und diese schrecken auch vor Mord nicht zurück. Stella gelingt es, das Päckchen an sich zu nehmen und begibt sich damit in Lebensgefahr. Ob es ihr gelingt, den Inhalt des Päckchens vor den Verbrechern zu beschützen und ihnen zu entkommen?

Rezension

Von dem Buch hatte ich mir ursprünglich einen Kriminalroman im Sinne von Miss Marple oder Miss Fisher – nur eben für Kinder – erwartet. Mir wurde aber schnell klar, dass dieses Buch ganz anders ist. Zum einen vereint die Geschichte mehrere Genres: Detektivgeschichte, Thriller, Abenteuer- und Fantasyroman. Und auch ein bisschen Gruselgeschichte. Zum anderen wird dem Leser bereits relativ zu Beginn klar, wer der Täter bzw. der Bösewicht ist. Es geht also in diesem Buch nicht darum, einen Täter zu finden und ein Verbrechen aufzuklären, sondern vielmehr, die Vollendung des Verbrechens zu verhindern und den Tätern zu entkommen.

Spannung wird bereits von Beginn an aufgebaut. Hierbei werden mehrere Spannungsbögen geschickt miteinander verbunden. Während die Spannung zu Beginn noch relativ harmlos ist, steigert sie sich bereits nach wenigen Kapiteln rasant und so wird es bereits vor der Hälfte des Buches mehrfach gefährlich für die Protagonistin Stella.

Stella ist ein Mädchen, das wenig über sich selbst weiß – und das wiederum spiegelt sich auch in der Erzählung wider. Obwohl der personale Erzähler uns die Geschehnisse aus Stellas Perspektive schildert, erfährt man relativ wenig über sie selbst. Dies ermöglicht es aber auch, dass sie sich im Laufe der Geschichte weiterentwickelt. Von der abenteuerinteressierten, unterdrückten und einsamen Waise zur mutigen und loyalen Heldin. Die aber dennoch auch auf die Hilfe anderer angewiesen ist – was das Ganze wiederum realistischer erscheinen lässt. Stella erfährt im Laufe der Geschichte auch, dass sie zum sogenannten Feenvolk gehört – hier erfolgt die Vermischung von Realität und Fantastik. Zum Feenvolk gehören die Menschen, die noch Magie in sich haben und spezielle Fähigkeiten besitzen. Da Stella nichts über ihre Herkunft oder über ihre Begabung weiß, ergibt sich hier ein neues Rätsel. Stella fungiert nur teilweise als Identifikationsfigur für die Leser. Ihr Leben unterscheidet sich stark von dem der kindlichen Leser. Lediglich ihre Tierliebe und ihr Interesse für das Unbekannte und für Abenteuer werden vermutlich viele Kinder bei sich wiederfinden.

Die Geschichte spielt im viktorianischen England. Die Zeit wird durch die Verhaltensweisen und Ansichten der Personen, die Kleidung und teilweise auch die Sprache verdeutlicht. So legen die Tanten großen Wert darauf, dass Stella sich gut benimmt und zu einer Dame erzogen wird. Ansonsten behandeln die Tanten sie wie Dreck. Viele Verhaltensweisen oder Gegenstände, die heute normal oder sogar gewünscht sind, werden als ‚vulgär‘ oder unangemessen angesehen. Auch die Umstände der damaligen Zeit werden kurz angeschnitten. Aberglaube und Kinderarbeit beispielsweise gehörten damals noch zur Tagesordnung.

Was das Buch besonders macht, ist die Art und Weise, wie Orte anschaulich geschildert werden und so Atmosphäre gestaltet wird. Die Atmosphäre im Buch ist eher düster. Die Schauplätze – das prachtvolle Hotel Majestic, das Theater, das nebelige Moor – sind sehr authentisch und passen hervorragend zu der Geschichte. Alles wirkt irgendwie gruselig und Stella befindet sich fast die ganze Geschichte hindurch in Gefahr: die Gefahr, von ihren Tanten oder Ada erwischt zu werden bis hin zu echter Lebensgefahr. Aber dennoch gibt es zwischendurch kleine Lichtblicke, die durch nette und hilfsbereite Personen ausgelöst werden.

Der Schreibstil der Autorin ist gut zu lesen und die bildhafte Sprache wertvoll. Allerdings gibt es auch komplexere oder unbekannte Wörter, die auch nicht immer erklärt werden. Teilweise wurden durch die Übersetzerin auch sehr lange und verworrene Sätze verwendet, was wiederum für jüngere Leser sehr erschwerend sein könnte.

Die Illustrationen sind in schwarz-weiß gehalten. Es gibt auf vielen Seiten nur kleine Illustrationen von einzelnen Personen oder Objekten, die eher dekorativ wirken. Vereinzelt gibt es aber auch ganzseitige Illustrationen, die einzelne Szenen darstellen. Diese sind sehr düster gehalten und unterstreichen dadurch hervorragend die Atmosphäre des Buches.

Fazit

Bei Stella Montgomery und die bedauerliche Verwandlung des Mr Filbert von Judith Rossell handelt es sich um den ersten Teil der Trilogie rund um die Waise Stella. Wer hier einen klassischen Detektivroman erwartet, in dem am Ende der Täter aufgedeckt wird, der wird sicherlich enttäuscht. Wer aber offen für eine sehr atmosphärische, fantasievolle, wirklich spannende und teilweise auch gruselige Geschichte ist, die mehrere Genres miteinander vereint, sollte dieses Buch unbedingt lesen. Wegen der teilweise recht komplexen Sprache und Schreibweise ist das Buch etwa ab 11 Jahren zu empfehlen. Die Geschichte hat mir gut gefallen und es wurde wirklich zu keinem Zeitpunkt langweilig. Daher bekommt das Buch von mir 4 ½ von 5 Sterne. Es ist – trotz der weiblichen Protagonistin – sowohl für Mädchen wie auch für Jungen zu empfehlen.