Rezension von Anastasia

Endlich gibt es ein neues zauberhaftes Bilderbuch des Erfolgsduos Agnès de Lestrade und Valeria Docampo. Nach den Bilderbüchern „Die große Wörterfabrik“ (2010) und „Der Bär und das Wörterglitzern“ (2015) ist im Oktober 2018 nun eine neue poetische Geschichte der französischen Autorin erschienen. Diese wurde erneut von Valeria Docampo illustriert, die auch hier die Leser wieder mit ihrem ganz einzigartigen Malstil verzaubert. Aber das Bilderbuch ist sogar noch besonderer als die beiden Vorgänger…

Inhalt

Rosa ist eine junge Schneiderin – aber keine, wie wir sie kennen würden. Denn anstatt Kleidung mit herkömmlichen Stoffen zu nähen, benutzt sie Nebelfäden, um aus ihnen Stoffe zu weben und aus diesen wiederum Kleidungsstücke, Teppiche und Tücher herzustellen. Den Leuten gefallen ihre Kreationen – denn sie helfen ihnen, ihre Probleme hinter diesen zu verstecken. Und auch Rosa versteckt ihre Sorgen hinter ihrer Arbeit und den dunklen Vorhängen vor den Fenstern ihres Hauses. So versucht sie, ihre traurige Kindheit und die Sehnsucht nach ihrem Vater, ohne den sie aufwachsen musste, zu verdrängen. Als dieser plötzlich einen Brief schreibt, ändert sich für Rosa – und vielleicht auch für das Land, in dem sie lebt – alles. Denn mit dem Briefträger und dem Brief durchdringt ein kleiner Lichtstrahl den dichten Nebel. Und Rosa findet ein neues Material für ihre Kreationen.

Rezension

Das Bilderbuch versprüht denselben Charme wie seine Vorgänger. Es ist erneut ein gelungenes Zusammenspiel zwischen Text und Bild, die beide nicht für sich allein existieren könnten, aber gemeinsam ein wundervolles Kunstwerk darstellen.

Der Text ist sehr poetisch, gekennzeichnet durch eher kurze Sätze und durch eine leicht verständliche Sprache. Dennoch ist der Inhalt oft sehr bildhaft und offen für unterschiedliche Deutungsmöglichkeiten, was die Geschichte so ästhetisch macht und sie von vielen anderen Bilderbüchern auf dem Markt unterscheidet. Das Bilderbuch zeichnet sich durch die Themenvielfalt aus. Die Themen entstammen zum Großteil der Lebenswelt von Kindern, eingebettet in eine fiktive, beinahe fantastische Welt. Hier geht es vorwiegend um Probleme und Sorgen, die – wie jeder weiß – die unterschiedlichsten Gründe haben können: Streit oder Stress mit den Eltern, Unzufriedenheit mit dem eigenen Aussehen, Geldprobleme. Auch erwachsenenspezifischere Themen (das Älterwerden, Schulden) werden nicht außer Acht gelassen, weswegen das Buch nicht nur für Kinder geeignet ist.

Ein Thema steht aber klar im Vordergrund: die Trennung bzw. Scheidung der Eltern, die oftmals mit einer räumlichen Distanz zu einem Elternteil einhergeht. Rosa, die eine solche Trennung bereits im zarten Alter von 4 Jahren erleben musste, dient hier als Identifikationsfigur für die jungen Adressaten. Ihre Gefühlswelt, die Trauer, Verdrängung und Leere, die durch diese familiäre Veränderung entsteht, lässt sich bestimmt von vielen betroffenen Kindern nachempfinden. Um diese Identifikation zu unterstützen, wurde sie auf der Bildebene – obwohl sie vermutlich bereits erwachsen ist – sehr kindlich, zierlich und klein dargestellt, insbesondere im Kontrast zu ihrem sehr groß gezeichneten Vater.

Der Nebel dient in der Geschichte als Symbol für das Verdrängen von Problemen und Sorgen. Er kann aber auch als Symbol dafür gedeutet werden, dass Rosa ihren Vater nicht (immer) sehen kann. Dies verdeutlicht der wunderschöne Satz aus seinem Brief: „Auch wenn du mich nicht siehst, bin ich da. Für dich bin ich immer da.“Eine künstlerische Methode ist besonders hervorzuheben, welche das Bilderbuch so besonders macht und es von anderen Büchern abhebt: die Verwendung von Transparenzseiten, die entweder mit Text oder mit Illustrationen bedruckt sind. Die Transparenzseiten erzeugen eine Illusion von Nebel, denn durch sie schimmert bereits die nächste Seite hindurch, aber eben nicht ganz so deutlich und eher verschleiert. Dieses Mittel, um das Grundthema der Geschichte aufzugreifen, ist einfach nur genial und sehr innovativ.

Ansonsten sind an den Illustrationen ihr einzigartiger, verträumter Charakter und die starke Wirkung der Farbgebung hervorzuheben. Gerade zu Beginn herrscht eine eher triste Farbwahl vor. Die Illustrationen bestehen hier entweder aus schwarz-weiß Zeichnungen oder aus dunkleren bzw. Grautöne. Durch Rosa in ihrer gelben Kleidung werden aber auch zu Beginn bereits Farbakzente gesetzt, die Hoffnung geben. Mit Auftauchen des Briefes ändert sich die Farbgebung und damit auch die Grundstimmung. Plötzlich ist alles in helles Licht geflutet und es dominieren helle, freundliche Gelb- und Beigetöne – diese stehen für die Liebe und Zuneigung zwischen ihr und ihrem Vater.

Auch die teilweise sehr skurril und extravagant dargestellten Personen (mit Schnabelmaske, Meerjungfrauenschwanz usw.), neben denen Rosa und ihre Familie eher normal wirken, sind ein typisches Merkmal von Docampos kontrastreicher Kunst. Trotz der sehr unterschiedlichen Illustrationstechniken innerhalb des Buches ist der Text zu jeder Zeit gut lesbar. Dies wird durch einen großen Zeilenabstand noch unterstützt. Durch das Zusammenspiel von Bild und Text – die zwar in ihren Grundideen aufeinander bezogen sind, aber dennoch nicht in einem 1:1 Verhältnis übereinstimmen – können die Vorstellungsbildung, die eigene Kreativität und das Sprechen über literarische Inhalte angeregt werden. Auch die poetische Sprache trägt einen hohen Beitrag zur literarischen Entwicklung von Kindern bei.

Fazit

Wieder ist der Autorin ein ganz besonderes Werk gelungen, das erst durch das Zusammenwirken von Text und Bild ein Ganzes ergibt. Wie auch in den Büchern zuvor herrscht eine eher melancholische Grundstimmung vor, welche sich in der Themenwahl der Geschichte und insbesondere auch in den Bildern durch die Farbwahl wiederspiegelt. Diese wird allerdings zum Ende aufgehoben, ohne dass die Geschichte dadurch kitschig wird. Stattdessen gibt sie den Lesern und Zuhörern Hoffnung, dass alles wieder besser werden kann und verdeutlicht, dass man seine Sorgen nicht herunterschlucken sollte. Gerade Kindern, die in einem Trennungsumfeld aufwachsen, kann das Buch großen Trost spenden. Es ist bereits ab etwa 4 oder 5 Jahren empfehlenswert, da es einen hohen Beitrag zum literarischen Lernen leisten kann. Wegen der hohen Ästhetik ist auch bei diesem Werk die Altersgrenze nach oben hin offen.
Das Buch kann zudem in der Grundschule herangezogen werden. Hier bietet es Sprech- und Schreibanlässe über (eigene) Sorgen und Probleme sowie Ideen für den Kunstunterricht.

Rahmendaten

Titel: „Die Schneiderin des Nebels“
Autorin: Agnès de Lestrade
Illustratorin: Valeria Docampo
Übersetzerin: Anna Taube
übersetzt aus: Französisch
Erscheinungsjahr: 2018
Verlag: Mixtvision Verlag
Erscheinungsort: München
ISBN: 978-3-95854-130-6
Preis: 17,90 €
Seitenanzahl: 48 Seiten
Altersgruppe: ab 4 – 5 Jahren