Rezension von Ramon
In Novellen und Kurzromanen erreicht Stephen Kings Erzählen oft eine besondere Dichte. Man denke nur an Klassiker wie „Die Leiche“, verfilmt als „Stand by me“ oder „Pin-up“, verfilmt als „Die Verurteilten“. Wie auch bei den miteinander verbundenen Kurzromanen und Novellen in „Atlantis“ schreibt King hier eine Spur literarischer als in vielen seiner langen Romane, die oft klarer der Genre-Literatur zugeordnet werden können.
„If it bleeds“, so der Originaltitel des Buchs, steht mit seinen vier Novellen ganz in dieser Tradition.
Hinter dem profanen deutschen Titel „Blutige Nachrichten“ verbirgt sich eines der besten Bücher, die King in den letzten zwanzig Jahren geschrieben hat.
Mr. Harrigans Telefon
Die Novelle beginnt im Jahr 2004. Craig ist neun Jahre alt und arbeitet für den pensionierten Milliardär Mr. Harrigan als Vorleser. Der ehemalige Geschäftsmann hat sich vor einigen Jahren in der Kleinstadt niedergelassen, um seine Ruhe zu haben. Mr. Harrigan ist mit der Bezahlung ziemlich knausrig, dafür verschenkt er Rubbellose. Als Craig 3000 Dollar gewinnt, revanchiert er sich bei dem Alten und schenkt ihm eines der gerade neu auf den Markt gekommenen iPhones. Mr. Harrigan will das Geschenk erst zurückweisen. Er hat prinzipiell keine moderne Technik im Haus, weil er sich nicht davon versklaven lassen möchte. Doch als Craig ihm zeigt, wie er mit dem iPhone seine Aktien verwalten kann, erliegt er nach und nach ganz der Faszination dieses neuen Geräts. Als Mr. Harrigan stirbt, steckt Craig ihm bei der Beerdigung sein geliebtes iPhone sogar in die Hemdtasche. So wird er damit begraben. Hier beginnt die Gruselgeschichte, denn auf magische Weise entsteht durch das Handy eine Verbindung zwischen Dies- und Jenseits …
Die Novelle zeigt eindrucksvoll, wie sehr die Handys in den letzten 15 Jahren unser Leben verändert haben, nicht nur zum Guten. Kings Kunstgriff dabei ist es, einen 25jährigen Ich-Erzähler auf seine Kindheit und Jugend in den Nuller Jahren zurückblicken zu lassen – die Zeit, in der die Handys erst begannen, immer stärker unseren Alltag zu durchdringen. Der Erzähler schaut dabei durch eine nostalgische Brille, als wäre es eine längst vergangene Ära. King, selbst mittlerweile immerhin Anfang 70, gelingt diese Figurenperspektive sehr glaubhaft.
Chucks Leben
Vögel, Fische und Bienen sterben, das Internet kollabiert, in Deutschland bricht ein Vulkan aus, gigantische Erdbeben erschüttern die Welt und sorgen für Flüchtlingsströme überall. Die Welt scheint unterzugehen – aber warum? Der Englischlehrer Marty Anderson fährt zu seiner Ex-Frau. Wenn jetzt das Ende kommt, dann will er bei ihr sein.
Überall in der Stadt taucht derweil das Konterfei eines Manns im Anzug auf, z.B. auf der Werbetafel eines Bankgebäudes. Unterschrift: „39 tolle Jahre! Danke, Chuck!“ Anderson fragt sich, wer dieser Chuck ist. Hat er für die Bank gearbeitet? Er muss ziemlich wichtig sein, wenn ständig so ein Brimborium um ihn gemacht wird. Doch niemand, den er fragt, hat schon einmal von ihm gehört …
Wie hängen die verschiedenen Phänomene miteinander zusammen? Das darf an dieser Stelle nicht verraten werden, da die Novelle ihre Wucht aus fulminanten, nicht vorhergesehenen Wendungen bezieht. Abstrakt gesagt geht es um die Subjektivität der Weltaneignung und die „Vielheiten“ in uns. Eine bewegende Geschichte mit einer tollen Botschaft, die auch formal brilliant erzählt ist. Sie besteht aus drei rückwärts angeordneten Akten, wobei obige Inhaltsangabe nur einen Ausschnitt aus dem eröffnenden dritten Akt wiedergibt.
Ganz klar der Höhepunkt des Buchs, der Kings literarisches Können zeigt.
Blutige Nachrichten
Dieser Kurzroman ist mit 240 Seiten Umfang der längste Beitrag. Es handelt sich um eine Fortsetzung des Romans „Der Outsider“, der wiederum Figuren aus der Mercedes-Trilogie („Mr. Mercedes“, „Finderlohn“, „Mind Control“) verwendet. Daher sollte man sich auf Spoiler auch zu diesen Romanen gefasst machen. Die eigensinnig-brilliante Holly Gibney ist mittlerweile Chefin des Detektivbüros „Finder`s Keepers“, während Jerome und Pete Huntley für sie arbeiten.
In einer Schule nahe Pittsburgh explodiert eine Paketbombe und richtet ein Massaker an. In den Fernsehnachrichten bringen sie auch ein Bild des Paketboten. Holly meint, eine Ähnlichkeit zwischen diesem und dem Reporter zu erkennen, der über den Anschlag berichtet. Handelt es sich um den „Outsider“, jenen Gestaltwandler, den sie glaubte besiegt zu haben? Ernährt er sich von dem Leid der Menschen und hat deswegen den Beruf des Reporters gewählt? Führt er jetzt Katastrophen selbst herbei, um darüber berichten zu können?
Erstmals tritt Holly hier als Hauptfigur eines Romans in Erscheinung. Wie Stephen King selbst im Nachwort anmerkt, ist sie ihm einfach immer mehr ans Herz gewachsen. So werden diesmal auch noch stärker die Hintergründe und familiären Ursachen ihrer Ängste und Zwangsgedanken beleuchtet, die sie aber, auch mit Jeromes Hilfe, immer besser in den Griff bekommt. Viel Zeit verwendet King darauf, neben dem Krimiplot auch Hollys Kampf um die Unabhängigkeit von ihrer Mutter und ihre Beziehung zu ihrem langsam dement werdenden Onkel zu beschreiben. So wächst einem die Figur noch stärker ans Herz und man möchte von dem gesamten Ermittlerteam in Zukunft gerne mehr lesen.
Ratte
Seit zwei Jahrzehnten versucht der Englischlehrer Drew Larson sich als Schriftsteller, doch bisher ist er über ein halbes Dutzend Kurzgeschichten nicht hinaus gekommen. Als ihm eines Tages plötzlich eine Romanidee kommt, ist seine Frau alarmiert. Schon drei Mal hat er sich an einem Roman versucht und ist gescheitert, das letzte Mal erlitt er danach einen Nervenzusammenbruch. Doch diesmal ist alles anders, spürt Larson, und reist in die Waldhütte seines verstorbenen Vaters, um dort ungestört von der Familie schreiben zu können. Er gerät in einen regelrechten Rausch, kommt so gut voran wie nie zuvor. Doch dann passiert das, was zuvor auch immer passierte: Er kann sich einfach nicht mehr für die richtigen Wörter entscheiden und droht darüber den Verstand zu verlieren. Bald erscheint ihm eine Ratte, die ihm einen teuflischen Pakt anbietet …
„Ratte“ ist vordergründig eine Gruselgeschichte und das Teufelspakt-Motiv auch bei King nicht neu. Doch gleichzeitig geht es um den Unterschied zwischen Schriftsteller und Literaturwissenschaftler. Drew Larson ist in erster Linie Lehrer und seine literaturwissenschaftliche Ausbildung behindert seine Kreativität, lässt ihn in ständige Unsicherheit verfallen, ob das, was er tut, „richtig“ ist. Hat er das richtige Wort, die richtige Metapher gewählt? Handelt es sich überhaupt um eine Metapher? Seine verkopfte Selbstbeobachtung führt in die völlige Blockade …
Mehr als Genre-Literatur
Stephen Kings Karriere umfasst bald 50 Jahre. Seit Beginn seiner Laufbahn war King mehr als nur ein Genre-Autor. Natürlich hat er sich schriftstellerisch enorm weiterentwickelt und hat einen immer reiferen, sprachlich sorgfältigeren Stil entwickelt. Doch seine realistische Schilderung der amerikanischen Provinz und seine präzise Wahrnehmung der sozialen und politischen Gegenwart hoben ihn auch früher schon vom reinen Unterhaltungsautoren ab. Von Anfang an schrieb er sowohl Bücher, die inhaltlich den Mustern eines Genres folgen (wie „Shining“) als auch Bücher, die sich einer Genre-Zuschreibung verweigern (etwa „Frühling, Sommer, Herbst und Tod“). Dennoch scheint man in den Feuilletonredaktionen den „literarischen“ King jedes Mal erst ganz frisch zu entdecken. „Stephen King kann nicht länger als Trivialschriftsteller abgetan werden“, schrieb die „Zeit“ jüngst etwa.
Mittlerweile hat es King auch in die elitärsten Literatursendungen geschafft, 2017 stellte Thea Dorn einen King im „Literarischen Quartett“ vor, 2020 zog Dennis Scheck im „Lesenswert Quartett“ nach. Ihre Mitdiskutanten konnten beide Kritiker nicht so recht überzeugen. Der Vorführeffekt – Dorn und Scheck hatten sich mit den Büchern „Sleeping Beauties“ bzw. „Das Institut“ ausgerechnet zwei Romane ausgesucht, die ganz der Konvention des Thriller-Genres folgen, vor allem aus äußerer Handlung bestehen und wenig Figurenentwicklung zeigen. Mit „Blutige Nachrichten“ hätten sie ihren Kollegen die Kritik nicht so leicht gemacht.
Doch viel wichtiger ist natürlich, dass „Blutige Nachrichten“ glänzend unterhält von der ersten bis zur letzten Seite.
Fazit
Alle vier Geschichten haben zwar eine unheimliche und geisterhafte Komponente und könnten damit als Gruselgeschichten bezeichnet werden. Doch die Metaphysik ist hier jeweils so stark mit Fragen des Gesellschaftlichen und der Gegenwart verknüpft, dass mir die heute v.a. in Lateinamerika verbreitete Bezeichnung „Magischer Realismus“ treffender erscheint.
Stephen King ist ein Meister darin, scheinbar Disparates miteinander zu verschmelzen. Das gilt nicht nur für Genres, sondern auch für die Abgrenzungen innerhalb der „schönen Literatur“. Denn in seinen Geschichten vereinigen sich Elemente der Trivialliteratur, der Unterhaltungsliteratur und der zeitgenössischen Literatur. In jedem Buch sind diese Elemente anders gewichtet. King selbst bezeichnete seine Romane einst als literarisches Fast Food. „Blutige Nachrichten“ gehört zu jenen King-Werken, die deutlich mehr Ansprüche einlösen, als sie vom Autor erhoben werden. Welch ein Glücksfall, ist es in der Gegenwartsliteratur doch oft umgekehrt.