Rezension von Julia

Bram Stoker gilt gemeinhin als der Schöpfer von „Dracula“, doch hat er auch andere Werke verfasst, die sich nicht mit düsteren Wesen beschäftigen, sondern mit realen Themen, wie beispielsweise das Meer. Leider sind nur wenige seiner anderen Werke übersetzt, doch ist in diesem Jahr eine deutsche Ausgabe seiner Erzählung „The Watter’s Mou’“ von 1895 erschienen.

Das Besondere an dieser Erzählung, die zu Stokers ersten Werken zählt, ist, dass es zwar Charaktere gibt, die wichtige Rollen spielen, doch steht hier ganz klar das tosende Meer vor der schottischen Küste an erster Stelle als Protagonist. Detailreiche, aber niemals langatmige Beschreibungen der offenen, stürmischen See und der Brandung an Land lassen das wilde Rauschen des Meeres durch das Buch zum Leser fließen und diesen mitreißen.

Inhalt

Der junge Bootsführer William Barrow erhält ein Telegramm, welches ihn vor der Ankunft von Schmugglerwaren warnt. Da er sein Amt sehr gewissenhaft ausübt, gerät er in eine heikle Situation, als seine Verlobte, Maggie MacWhirter, ihm verzweifelt eröffnet, sie glaube, es handele sich hierbei um ihren Vater, der wegen seiner hohen Schulden zum Schmuggeln dieser Waren gezwungen werde.

Wissend, wie ernst ihr Verlobter seinen Beruf nimmt, befindet sich die junge Frau in einem Dilemma, möchte sie William einerseits nicht dazu überreden, seine Pflicht zu vernachlässigen, doch gleichzeitig muss sie auch versuchen, ihren Vater zu retten. Es ist eine sehr stürmische Nacht, die sich die Schmuggler für ihren Auftrag ausgesucht haben und als sich abzeichnet, dass ihr Vater und seine Helfer auf frischer Tat ertappt würden, muss Maggie eine schwierige Entscheidung treffen.

Rezension

Die Erzählung selbst fasst keine 150 Seiten, doch findet man hier alles, was ein wunderbares Leseerlebnis ausmacht. Eine prekäre Situation, eine folgeschwere Entscheidung, eine Liebesbeziehung und über allem einen unberechenbaren und aufbrausenden Protagonisten. Dieser ist auf allen Seiten präsent und wird durch die gelungenen Beschreibungen Stokers zum Leben erweckt. Dies gekoppelt mit einer nebligen Nacht und den starken Winden des Nordens schafft eine düstere und bedrohliche Atmosphäre, die sich beim Lesen aber mit einer Tasse Tee und auf der heimischen Couch schnell in ein gemütliches, herbstliches Leseerlebnis verwandelt.

Die Charaktere William Barrow und Maggie MacWhirter tauchen ebenfalls fast lebendig vor dem geistigen Auge auf und als Leser verfolgt man gespannt deren Handeln bis zur letzten Seite. Die Geschichte beschränkt sich auf nicht mehr als 24 Stunden im Leben dieser beiden Menschen, doch schafft Stoker es, daraus eine spannende Erzählung zu erschaffen.

„Der Zorn des Meeres“ war für mich ein großes Lesevergnügen. Ich bin froh, dass ich ein Werk von Stoker gelesen habe, das sich thematisch fernab von „Dracula“ befindet und doch so viel Tiefe hat, sodass man auch nach dem Lesen noch einige Zeit daran denken muss. Gleichzeitig ist es für mich eine der schönsten Liebesgeschichten, ohne schnulzig zu sein und eine Hommage an das launische Meer, das strahlend blau und sanft sein kann, aber auch unberechenbar wild und stürmisch. Und wir als Menschen sind nur Nebenfiguren neben diesem großen und mächtigen Protagonisten.