Rezension von Ramon

„Ich war nie jemand, der über seine Gefühle schreibt, zum Teil deshalb, weil sie nicht besonders interessant sind (selbst für mich nicht), vor allem aber, weil sie sich laufend verändern.“ – Aus der Einleitung

Mit „Wer’s findet, dem gehört’s“ veröffentlicht David Sedaris nun die erste Hälfte seiner Tagebücher, die die Jahre von 1977 bis 2002 umfasst. Während viele andere Tagebuchschreiber ohne Selbstdistanz ein mindestens für Außenstehende kaum entwirrbares Innenleben ausbreiten, konzentriert sich der Autor vor allem auf das, was um ihn herum vorgeht. Doch gerade dadurch hat man das Gefühl, das, was Sedaris‘ Persönlichkeit ausmacht, wirklich gut kennenzulernen. Denn nicht nur die Perspektive, mit der er die Dinge betrachtet, schon die Auswahl der Themen ist hier signifikant: Welche Personen, Ereignisse, Situationen und Dialogfragmente sind es, die ihn so beschäftigen, dass er sie für wert befindet, aufgeschrieben zu werden?

Immer wieder sind es beobachtete Grobheiten, Unhöflichkeiten, Bedrohungen und Pöbeleien, kleinere und größere Gewaltentladungen zwischen Fremden auf den Straßen von Raleigh, Chicago und New York, die den Autor nachhaltig beschäftigen. Das Viertel in Chicago, in dem er in den Achtzigern lebt, ist von Armut und (Klein-)Kriminalität gekennzeichnet. Da werden Autos ausgeweidet, sobald sie einen Platten haben, Gullydeckel werden geklaut, um sie an Alteisenhändler zu verkaufen und überall wird mit Drogen gedealt.

Als Malocher kommt Sedaris herum, seine Arbeitskollegen sind nicht selten offen rassistisch, frauenfeindlich und homophob, manchmal sogar Mitglieder des Ku-Klux-Clan. Nüchtern beschreibt er dieses Umfeld genauso wie sein eigenes Versagen, als er einem Menschen in Bedrängnis nicht zu Hilfe kommt. Keine Rechtfertigung, keine Relativierung, ganz sachlich wird das wiedergegeben. Oft gelingen ihm meisterliche Miniaturen, gerade bei den Dialogen und Zitaten. Da ist beispielsweise ein schwarzer Mann, der ihn im Waschsalon anspricht. Über Umwege, etwa mit Fragen danach, warum seine Frau nicht die Wäsche mache und ob er keine Kinder habe, versucht dieser herauszufinden, ob sein Gegenüber ebenfalls schwul ist. Sedaris verdichtet diesen Versuch auf acht kurze Sätze wörtlicher Rede und gibt so auf knappstem Raum ein Sittenbild der USA in den 1980er Jahren. Viele Einträge sind ähnlich kurz, umfassen oft weniger als eine halbe Seite.

In Sedaris‘ Tagebüchern wird nichts erklärt, es gilt das Prinzip „show, don`t tell“. Man wird einfach hineingeworfen in die Szenen und muss sich selbst in dem bunten Treiben zurechtfinden. Dennoch ergeben die Einträge am Ende ein homogenes Ganzes, lesen sich die Tagebücher wie ein autobiografischer Bildungsroman. Ein drogensüchtiger Arbeiter, der die Schule abgebrochen hat, wird zum erfolgreichen Schriftsteller.

Früh beginnt Sedaris zu schreiben, doch der Ruhm lässt lange auf sich warten – noch in den späten Dreißigern ist er finanziell auf Putzjobs angewiesen. Dann gelingt ihm mit seinen Büchern „Nackt“ und „Ich ein Tag sprechen hübsch“ der Sprung auf die Bestsellerliste der New York Times. In letzterem Buch beschreibt er auf sehr erheiternde Weise den Besuch eines mit strengem Regiment geführten Sprachkurses in Frankreich. Auch in seinem Tagebuch finden sich viele Einträge zu diesem Sprachkurs, den Sedaris mehr als ein Jahr lang besuchte. Geht man davon aus, dass seine Tagebucheinträge realitätsnäher sind als seine Storys, so muss man überraschenderweise feststellen, dass letztere zwar satirisch zugespitzt, aber alles andere als frei erfunden sind.

Der Sedaris der 1990er und 2000er Jahre ist wohlhabender, bürgerlicher und hat den Drogen- und Alkoholentzug geschafft. Jetzt geht es um die Kunst- und Verlagswelt, Gespräche mit Agenten und Verlegern, Briefe von Fans und Bittstellern, eine gemeinsame Deutschlandtournee mit seinem früheren Übersetzer Harry Rowohlt.

Ein weiteres Thema, das sich durch alle Jahrzehnte zieht, ist die eigene Familie: Der unwirsche Vater, der noch den größten Erfolg des Sohnes herunterputzen muss, die humorvolle und aufmerksame Mutter, die verrückten, teils kreativen, teils depressiven Geschwister. Auch diese Charaktere kennt man aus Sedaris‘ Erzählungen, die auf einmal gar nicht mehr so übertrieben wirken.

Fazit

Ein Tagebuch, das nicht Nabelschau ist, sondern den Blick auf die anderen richtet und gerade dadurch das Wesen des Autors freilegt. Einzelne Einträge können als vorzüglich gelungene Kurzprosa für sich bestehen, aber gleichzeitig ist es auch spannend wie ein Roman, Sedaris‘ ungewöhnlichen Werdegang chronologisch weiterzuverfolgen. Doch auch wer sich weniger für dessen Biografie als für Zeitgeschichte interessiert, gewinnt in den Texten ein dichtes Bild von der Alltagswirklichkeit in den USA der 1970er bis 2000er Jahre.

Daten

Originaltitel: Theft by Finding
Verlag: Blessing
Erscheinungsjahr: 2017
Seitenzahl: 606
Aus dem Amerikanischen von Georg Deggerich