Rezension von Katharina
Das Mysterium der Brandung
„Welche Geheimnisse ein Leuchtturm erzählen könnte. Die Geheimnisse der Männer waren unter dem Wasser begraben“*
Kurz zum Buch
Zwanzig Jahre sind vergangen seit jenem schicksalsschweren Tag. Und dennoch so präsent wie am Tag, an dem das Boot zurückkehrte, und die unglaubliche Nachricht überbrachte. Arthur Black, Bill Walker und Vincent Bourne waren verschwunden. Die Tür verriegelt, beide Uhren zur selben Zeit stehen geblieben. Jahrelanges hoffen, trauern und bangen. Zahlreiche Erklärungen werden aufgestellt, diskutiert und wieder verworfen. Ein Akzeptieren, ohne abschließen zu können.
Drei Frauen, drei unterschiedliche Lebenswege. Ein gemeinsames Schicksal
So vieles ist seit damals passiert. So vieles ungesagt geblieben. Ein Journalist gräbt die alte Geschichte wieder aus. Die Frauen müssen sich der Vergangenheit stellen, verdrängte Geheimnisse erneut betrachten und lernen, mit allem, was passiert ist, abzuschließen.
Was wirklich geschah, weiß die Maiden allein. Die Frauen können nur rätseln, endlich einen Schlussstrich setzen und wieder zu Leben beginnen. Emma Stonex wählt drei völlig unterschiedliche Charaktere, sowohl bei den Frauen als auch bei den Männern. Vergleicht ihre Gemeinsamkeiten und zeigt ihre Unterschiede. Behutsam, aber ehrlich nähert sie sich den verschiedenen Psychen und Weltanschauungen. Mit Nachsicht, aber ohne zu beschönigen. Sie berichtet nur, ohne zu werten. Das überlässt sie den Leserinnen und Lesern.
Die Figuren wachsen ans Herz – man lernt sie kennen und verstehen. Ihre ganz persönlichen Gedanken, ihre ungesagten Schwächen, die heimlichen Sehnsüchte. Sie lassen teilhaben an ihren Emotionen und Gedanken, beschönigen nichts, legen ihr Innerstes offen – zu kritisieren und zu bewundern.
Sie alle haben dasselbe Leben, aber jeder lebt es anders. Für den einen ist das ruhige Leben eine innere Bestimmung, während andere daran zu ersticken drohen. Für manche bedeutet es Freiheit, für andere einen Käfig ohne sichtbare Gitter.
Sprache als Kunst
„Am meisten denke ich an dich, wenn die Sonne aufgeht In dem Augenblick davor, in den ein, zwei Minuten, wenn die Nacht gähnend den Morgen erwartet und das Meer sich langsam vom Himmel trennt.“*
Emma Stonex spielt mit den Worten wie der Wind mit den Wellen. Eine Art innerer Monolog wechselt sich ab mit Gesprächen, von denen man nur eine Seite in schriftlicher Form verfolgen kann. Die Antworten und Fragen des Journalisten entspringen der eigenen Vorstellungskraft und verleiht dem Roman eine persönliche Note. Vergangenheit wechselt mit Gegenwart, unterschiedliche Blickwinkel erhöhen die menschliche Vielfalt der Geschichte.
Cover
Zart und beinahe zerbrechlich wirkt die helle Abbildung des Leuchtturms inmitten der tonsenden Brandung auf dem vor dem dunklen Blau des Buchcovers. Schlicht, aber effektiv. In Kombination mit der nüchternen, gelben Schrift übt das Buch eine Anziehungskraft aus, der man sich schlecht entziehen kann. Das Cover spiegelt Sprache des Buches wider – einfache Worte, die so viel sagen.
„Obwohl das Leben an der Oberfläche geschäftig weiterging, bewegte sich die Erde darunter nur träge. Wellen trieben ans Ufer, geduldig und für alle Zeiten, das Laub der Buchen wehte hin und her wie ein chinesischer Fächer.“*
Fazit
Emma Stonex schrieb nicht nur einen Roman über ein unerklärliches Ereignis, sondern schenkt uns einen, der die gewöhnlichen, die einfachen, die liebenswürdigen und die komplexen Momente des Menschseins aufzeichnet.
Von der ersten Seite an ist es ein Buch, das einen nicht mehr loslässt. Selbst wenn man es längst auf die Seite gelegt hat, bleibt die Geschichte stets im Hinterkopf. Wunderschön und wahnsinnig berührend. Ein Roman, den ich allen ans Herz legen kann, die die Schönheit der Sprache zu schätzen wissen.
*die kursiven Sätze sind direkte Zitate aus dem Buch (Emma Stonex, Die Leuchtturmwärter, 3. Auflage August 2021, übersetzt von Eva Kemper. Fischer Verlag)