Rezension von Ramon

Inhalt

Boris ist Anfang 40 und arbeitet im Schweizer Bankenwesen. Den Kontakt zu seinen Eltern und Geschwistern hat er vor sieben Jahren vollständig abgebrochen. Das Leben gerät ihm immer weiter aus den Fugen, die beiden Söhne machen Kummer und mit deren Mutter, die Scheidung läuft bereits, gibt es nur Ärger. Als durchtriebener, schwieriger Mensch wird Boris anfangs von seinem Psychiater charakterisiert, als eine „gefürchtete und beneidete Führungskraft“. Doch der Arzt erkennt auch, dass sich dahinter ein sensibler Mensch verbirgt, der sich verwundet fühlt. Er empfiehlt seinem Patienten, den Kontakt zu seiner Familie wieder aufzunehmen und zwar in der Form eines Briefwechsels. Wichtig sei, dass es sich um handgeschriebene, mit der Post versandte Briefe handele, nicht um SMS, E-Mails oder Nachrichten über soziale Netzwerke.

Salems Roman besteht ausschließlich aus Briefen. Briefeschreiber und -empfänger sind neben Boris und seinem Psychiater dessen Eltern, seine Geschwister, seine Kinder und Nichten. Ganz am Ende des Buchs findet sich eine Geneaologie der Familie, die die Zurechtfindung erleichtert.

Anfangs lernen wir vor allem Boris‘ Perspektive kennen. Er macht seine Eltern für sein verpfuschtes Leben verantwortlich. Seine „Flucht in die Finanzwelt“ beschreibt er als Rache an beiden Eltern – dem Vater, der einen Arzt aus ihm machen wollte und der Mutter, die ihn als Projektionsfläche für ihre eigenen Selbstverwirklichungsträume benutzte. Er sinniert über seine damalige Rolle als Ältester unter den Geschwistern und darüber, warum sich so vieles aus seiner Herkunftsfamilie jetzt in der eigenen Familie wiederholt. Wie viel Spielraum hatte er, seiner Prägung zu entrinnen?

Schnell lernen wir viele andere Perspektiven kennen, zahlreiche wechselseitige Vorwürfe stehen im Raum. Doch tatsächlich wird über das Medium des handgeschriebenen Briefs eine vorsichtige Annäherung möglich. Je mehr sich die verschiedenen Beteiligten darauf einlassen, desto mehr gelingt es, Versteinerungen aufzulösen. Ein schwülstiges Happy End gibt es deswegen aber nicht.

Neubelebung eines aus der Zeit gefallenen Genres

Salem hat dem vermeintlich aus der Zeit gefallenen Genre des Briefromans wieder neue Impulse verliehen. Zwar gab es in den letzten Jahren ein paar moderne Updates dieses Genres, etwa Daniel Glattauers E-Mail-Roman „Gut gegen Nordwind“. Doch dem Psychiater und Familientherapeuten Salem geht es explizit um eine Rückbesinnung auf den handgeschriebenen Brief. Dieser macht seinen Verfasser, anders als moderne Kommunikationsmittel, sinnlich präsent. Er offenbart uns über die Form und die Handschrift etwas über die Gefühle des Schreibers. Gleichzeitig zwingt der Brief zur Reflexion und zur Zügelung reiner Affektausbrüche. Dazu passt ein Zitat von Shen Fu, das in einem der Briefe genannt wird: „Viele Gefühle sind so wie gar keine Gefühle“.

Fazit

Das Buch eines Psychiaters, der aus Sicht eines Patienten schreibt, hätte leicht selbstgefällig und literarisch uninteressant ausfallen können. Doch so ist es keinesfalls. Die Idee überzeugt auf ganzer Linie und Salem hat für die Umsetzung die perfekte Form gefunden. Sein Briefroman kann die  multiplen Perspektiven innerhalb einer großen Familie hervorragend wiedergeben und reflektieren. Man könnte bemängeln, dass die Tonalität der Briefe zu dichterisch ist und sich Familienmitglieder nicht auf diese Weise unterhalten. Das mag sein, doch die Beobachtungen der Familiendynamiken sind dagegen äußerst realistisch. Gerade die Kombination des psychologischen Realismus mit der dichterischen Ausschmückung machte dieses Werk für mich zu einer vergnüglichen Lektüre.