Neuübersetzung von Ursula Gräfe

Rezension von Ramon

1998 erschien dieser Roman Haruki Murakamis erstmals im Dumont Verlag, damals unter dem Titel „Mr. Aufziehvogel“. Die frühere Übersetzung war zum einen gekürzt. Zum anderen handelte es sich um keine Übersetzung aus dem Japanischen, sondern um eine Übertragung der englischen Übersetzung. Mit „Die Chroniken des Aufziehvogels“ legt Dumont nun eine ungekürzte Übersetzung direkt aus dem Japanischen vor.

Der Roman

Der dreißigjährige Erzähler Toru wohnt mit seiner Frau und seinem Kater in einem Haus in Tokio. Dieses grenzt an eine Gasse, die nur durch Überklettern einer Backsteinmauer zu erreichen ist. Als sein Kater verschwindet, beginnt Toru auf der Suche nach ihm diese Gasse zu erkunden. Dabei stößt er auf ein verlassenes Haus, von dem etwas Unheimliches ausgeht und auf einen alten Brunnen. Nachdem seine Frau ihn spontan verlassen hat und er jetzt ganz allein in seinem Haus ist – den Kater hat er nicht wiedergefunden – steigt er in den Brunnen hinab, um über alles nachzudenken.

Angeregt zu dieser ungewöhnlichen Tat wurde Toru von einer Geschichte, die ihm ein Leutnant namens Mamiya erzählte. Der war während des zweiten Weltkriegs als Soldat in der Mandschurei und erlebte dabei die schlimmsten Gräueltaten. So musste er zusehen, wie ein Kamerad bei lebendigem Leib gehäutet wurde. Ihn selbst warfen mongolische Soldaten in einen tiefen Brunnen, urinierten auf ihn und ließen ihn anschließend zum Sterben zurück. (Die Folterszenen werden teilweise sehr detailliert dargestellt und dürften gerade sensible Gemüter noch länger beschäftigen. So brutal hat Murakami in keinem anderen Roman über den Krieg geschrieben.) Wider Erwarten konnte sich Mamiya jedoch aus dieser aussichtslosen Lage befreien. 

Toru findet sich bald in einer ganz ähnlichen Situation wieder wie Mamiya während des Krieges. Während er im Brunnen über sein Leben nachdenkt, zieht das 17-jährige Nachbarsmädchen May Kasahara einfach die Strickleiter hoch, mit der er sich abgeseilt hat und verschwindet. Jetzt gibt es für ihn kein Entkommen mehr …

Die Neuübersetzung

Gemäß dem „Stille-Post-Prinzip“ ging in der ursprünglichen Übersetzung aus dem Japanischen ins Englische ins Deutsche viel von Murakamis Sprachrhytmus verloren. Das beweist bereits der erste Absatz der großartigen Neuübersetzung eindrucksvoll.

Hier ist der alte Buchanfang, aus dem Englischen von Giovanni und Ditte Bandini:

„Als das Telefon klingelte, war ich in der Küche, wo ich einen Topf Spaghetti kochte und zu einer UKW-Übertragung von Rossinis Die diebische Elster pfiff, was die ideale Musik zum Pastakochen sein dürfte.“

Nun die Neuübersetzung von Ursula Gräfe:

„Als das Telefon klingelte, stand ich in der Küche und kochte Spaghetti. Dabei pfiff ich die Ouvertüre zu Die diebische Elster von Rossini mit, die aus dem Radio ertönte. Die allerbeste Musik zum Spaghettikochen.“

Diese zweite Fassung mit ihren kurzen, aktiven Sätzen klingt nicht nur viel klarer und lebendiger. Sie ist sicherlich auch näher am Original. Murakami fand seinen knappen, oft lakonischen Stil laut eigener Aussage ja, als er seine Geschichten zunächst auf Englisch verfasste und dann wieder in seine Muttersprache Japanisch übertrug. Durch die begrenzteren Ausdrucksmöglichkeiten in der Fremdsprache fand er zu seinem bewusst alltagssprachlichen, schlanken Stil, der hier ironischerweise in der deutschen Erstübersetzung aus dem Englischen komplett verloren ging.

Noch deutlicher werden die Unterschiede zwischen den Übersetzungen, wenn Murakami mit Vergleichen und Metaphern arbeitet. Auch hierzu ein Beispiel. Der Erzähler wurde gerade von einem ihm verhassten Machtmenschen zutiefst gedemütigt. Nun holt er zu einem Gegenschlag aus. Zunächst die alte Übersetzung:

„’Wie ich hier saß und Sie ansah‘, fuhr ich fort, ‚fiel mir plötzlich die Geschichte von dieser Scheißinsel ein. Und damit will ich sagen: Eine bestimmte Art von Beschissenheit, eine bestimmte Art von Stagnation, eine bestimmte Art von Finsternis pflanzt sich aus eigener Kraft in einem eigenen geschlossenen Kreislauf immer weiter fort. Und sobald diese Beschissenheit einen bestimmten Punkt überschritten hat, kann sie niemand mehr aufhalten – nicht einmal der Betroffene selbst.’“

Hier die neue Übersetzung:

„’Und wenn ich dich sehe, muss ich an diese erbärmliche Insel denken‘, sagte ich zu Noboru Wataya. ‚Damit will ich folgendes sagen: Eine gewisse Art von Erbärmlichkeit schafft sich naturgemäß einen eigenen Kreislauf, aus dem von einem gewissen Punkt an niemand mehr ausbrechen kann. Nicht einmal der Urheber selbst.‘

Auch hier ist die Neuübersetzung meines Erachtens wesentlich präziser, knapper und kraftvoller. Allein schon die Verwendung des Worts „erbärmlich“ anstelle von „beschissen“ lässt den Erzähler gegenüber seinem Feind wesentlich souveräner wirken – und das ist ja der Effekt, den diese Äußerung erzeugen soll. Auch angesichts der Höflichkeit in der japanischen Kultur erscheint der Begriff „erbärmlich“ hier viel passender.

Fazit

Die rund 1000seitigen „Chroniken des Aufziehvogels“ enthalten viele sehr gelungene Szenen, Beschreibungen und Dialoge. Die Geschichte ist voller starker Bilder, die auch losgelöst von der Gesamthandlung wirken. Immer wieder beeindruckt die feine sinnliche Wahrnehmung in den Beschreibungen des Alltags und der Umgebung. 

Als zusammenhängender Roman sind diese „Chroniken des Aufziehvogels“ vielleicht nicht ganz so stark wie die einzelnen Szenen an sich. Ich persönlich habe nicht durchgehend den roten Faden erkannt und für meinen Geschmack bleiben am Ende etwas viele ungelöste Rätsel. Das mag durchaus künstlerisch gewollt sein.

Für mich wechselten sich dadurch bei der Lektüre Faszination, Spannung und latente Langeweile immer wieder ab. Ermüdung kam vor allem dann auf, wenn es zu viele offene Klammern in der Geschichte gab und schon zu ahnen war, dass sich viele nicht mehr so klar schließen würden. Wahrscheinlich erwarte ich als westlicher Leser aber auch zu sehr, dass am Ende alles logisch aufgelöst wird oder jedenfalls als eindeutige Metapher oder Allegorie dasteht. Doch das ist nicht Murakamis Stil. Und macht das Buch andererseits natürlich auch besonders vielschichtig. Man kann es immer wieder aufschlagen und wird die Szenen anders lesen.

Insgesamt fand ich den Roman sehr bereichernd und möchte vor allem empfehlen, ihn in dieser gelungenen Neuübersetzung von Ursula Gräfe zu lesen.