Rezension von Mona

Inhalt

„Träume aus Papierschnee“ war für mich eins der meist erwarteten Bücher dieses Jahr. Bereits für 2020 angekündigt, wurde der Erscheinungstermin immer weiter verschoben, bis gar nicht mehr ersichtlich war, ob es überhaupt noch in einem deutschen Verlag erscheinen würde. Dementsprechend war meine vorfreudige Begeisterung entfacht, als ich es ein Jahr später erneut in der Vorschau erblickte. Ob sich diese Begeisterung während des Lesens aufrecht halten ließ, schauen wir uns nun an.

Der Titel suggeriert bereits ein bildreiches Buch, ein bisschen verträumt, märchenhaft, romantisch. Und das trifft sicherlich alles zu, doch das Schlagwort ist das zu aller erst auftauchende: Träume. Denn dies ist eine Ebene, auf die wir uns vorallem bewegen: eine Realität, die zu grausam und zu wenig aushaltbar ist, als dass sie sich in ihrer reinen Form ertragen ließe. Es ist also nicht auf klassische Weise romantisch, sondern romantisierend. Und zwar eine Welt, die dieser Realitätsflucht schlichtweg bedarf, um weiter existieren zu können. Denn wer würde mit dem Titel eine starke gewaltvolle und sexuelle Komponente, Depressionen und Drogenmissbrauch assoziieren?

Wir haben hier also zwei sehr gegensätzliche Komponenten: die Lebenswirklichkeit von zwei Waisen, die früh mit Gewalt, Machtspielen, Einsamkeit, Entwurzelung und Grausamkeit konfrontiert werden und diese als lebenslange Gefährten an ihrer Seite akzeptieren müssen. Auf der anderen Seite kindliche, bunte Fantasie, märchenhafte Bilder, unschuldige, glitzernd-schillernde Szenen.

Tänze mit imaginierten Bären, Poesie, alles, was der fröhlich schimmernden Kinderseele entspringt. Ein Gegensatz lässt sich auch bei den Figuren selber erkennen; Figuren, die sich weigern erwachsen zu werden und gleichzeitig ihre Kindheit unbedingt hinter sich lassen wollen. Oder müssen.

Dabei macht die Autorin schon früh klar, wie weit sie gehen wird, wie viel Grausamkeit sie ihren Figuren aufbürdet, wenn beispielsweise eines der kindlichen Waisen Vergewaltigungen durch das Betreuungspersonal über sich ergehen lassen muss, und zwar permanent. Das Buch ist insgesamt von großer (selbst-) zerstörerischer Kraft und mich haben allein der Schreibstil und das spannende Setting (Kanada in den 1930er Jahren) durch die Geschichte getragen, sowie die Hoffnung, dass sich vielleicht doch noch alles zum Guten wenden würde. Irgendwie. Dass die Autorin sich mit der Geschichte ihrer Figuren aussöhnen würde und die verträumten Sequenzen zu etwas Gutem führen würden. Letztendlich. Denn erhofft habe ich es mir für die Figuren, sie wachsen einem unweigerlich ans Herz, auch wenn man sich möglicherweise nicht im Ansatz mit ihren Verhaltensweisen und Denkmustern identifizieren kann.

Ich habe mir hinterher auch tatsächlich die Frage gestellt, ob ich mich nicht vielleicht habe einlullen lassen von der poetischen Kraft, die oftmals zu überdecken versuchte, was unaussprechlich war. Oder es vielleicht sogar geschafft hat, empfinde ich doch Gewalt (aktiv und passiv) als Stilmittel für sich genommen immer als sehr unangenehm und störend. Und ich bin der Überzeugung, dass es viele solcher Momente gab, mir die Geschichte selber aber insgesamt doch noch zu wichtig war, als dass ich sie unvollendet hätte beiseitelegen können.

Die Übersetzerin Gesine Schröder hatte wahrscheinlich eine spannende Zeit, dieses Werk ins Deutsche zu übertragen, schaut man sich die sprachlichen Besonderheiten an, die sich durch das ganze Buch ziehen. Die Geschichte wird überflutet von Metaphern, die eine hohe Funktion einnehmen und oftmals, wenn man sie tiefer wirken lässt und ihnen ein paar Gedanken widmet, die Persönlichkeiten und Gefühlsregungen der Figuren widerspiegeln. Um das zu verdeutlichen: Die Metaphern unserer weiblichen Protagonistin in der Kindheit sind meist eher fantasievoll und unschuldig, während diejenigen des männlichen Protagonisten schon früh eine sexuelle Note aufweisen. Ein Beispiel für ein solches Bild, das man erst einmal auf sich wirken lassen muss:

„Langsam begann das Kind zu existieren, wie eine winzige Fußnote unter einem schweren physikalischen Traktat. Wie eine Cashewnuss am Boden einer Schüssel.“ (S. 282).

Oder:

„Das war das Begehren, das die Physik aushebelte: Es legte den Finger auf die Schallplatte und bremste sie, damit man auch wirklich jedes Wort hörte und auswendig lernte.“ (S. 266)

Fazit

Man sollte wohl schon einiges übrig haben für diese Art von Stilmitteln, wenn man zu „Träume aus Papierschnee“ greift, denn, es sei noch einmal gesagt: Die Geschichte funktioniert fast nur durch diese. Doch einer Sache sollte man sich bewusst sein: Das Buch ist kein dramatisches Märchen, wie es vielleicht anmuten mag, sondern ein gnadenloses Trauerspiel mit märchenhaften Elementen – allein der Realitätsflucht, Einsamkeit und Entwurzelung, aber auch Hoffnung, wegen.