Rezension von Ramon

Inhalt

Im Winter 67/68 ist Istanbul ein Zufluchtsort für Junkies aus ganz Europa und die Zwischenstation für sinnsuchende Hippies auf dem Weg nach nach Indien. Zu dieser Zeit lebt der Ich-Erzähler Harry Gelb mit einem Kumpel in einem kleinen Dachzimmer in Istanbul und gibt sich der Drogensucht hin. Beide haben künstlerische Ambitionen, der Freund ist angehender Maler und Harry will Schriftsteller werden, denn seit seinem 18. Geburtstag hat er erkannt, dass dieser Beruf „der einzige war, in dem ich meine Apathie ausleben und vielleicht dennoch aus meinem Leben etwas machen konnte“. Tatsächlich ist Gelb aber meistens ziemlich fleißig, steht unter Strom, strampelt sich ab, sagt an anderer Stelle auch selbst: „Produktivität ist das Plus der Autodidakten.“ Wie ein Agent bewegt er sich in den Subkulturen, immer auf der Suche nach dem „Rohstoff“, nach den wahren Geschichten, über die er schreiben will und nach denen er so süchtig ist wie nach dem Opium.

Zurück in Deutschland probiert er einiges, um das Schreiben zum Beruf zu machen, kommt aber kaum vorwärts. Sein erstes Manuskript wird von Dutzenden Verlagen abgelehnt, er versucht sich als Filmkritiker und muss feststellen, dass Aufwand und Honorar in keinem Verhältnis zueinander stehen. Immer wieder nimmt er Brotjobs an, um über die Runden zu kommen.

Später verschlägt es Gelb u.a. in die Berliner Kommune 1, wo er sich an Drogenexperimenten beteiligt, nach Frankfurt in die Hausbesetzerszene und in eine Disco namens Zero, wo er als Chefredakteur für ein hauseigenes Szeneblatt verpflichtet wird, mit Büro in der Clubgarderobe. Das Blatt soll Magazinen wie „Tempo“ und „twen“ Konkurrenz machen, kommt aber nie über die zweite Ausgabe heraus.

Diese Beschreibungen über die Herstellung einer Untergrundzeitung in den 1970er Jahren haben mich besonders fasziniert. Damals war es noch ziemlich aufwendig und teuer, so ein gerade mal 12seitiges Heft drucken zu lassen. Alles geschah mit Handarbeit. Für das Layout etwa wurde sogenanntes Letraset verwendet, bei dem Buchstaben einzeln aus einer Vorlage auf eine Fläche gerubbelt werden, um eine Überschriften zu erstellen.

Hintergründe

Jörg Fauser wurde 1944 geboren und starb 1987. Sein autofiktionaler Roman „Rohstoff“ beschreibt sein Leben zwischen ca. 1967-1973. Viele Figuren des Romans sind tatsächlichen Personen der deutschen Untergrundszene nachempfunden. Der Anhang des Buchs listet hier sogar einige Klarnamen. Erstmals erschienen ist „Rohstoff“ im Jahr 1984. Fauser hatte lange einen schweren Stand bei der Literaturkritik, wie das Nachwort dieser Neuausgabe noch einmal eindrucksvoll beschreibt. „Rohstoff“ ist der erste Band einer umfassenden neuen Werkausgabe im Diogenes Verlag.

Leseeindruck

Offen gestanden, mit Fausers literarischen Vorbildern, insbesondere Jack Kerouacs „On the Road“, dem Klassiker der Beat-Literatur, bin ich nie besonders warm geworden. Die Mackerposen, die Humorlosigkeit, die Selbstgerechtigkeit und Besserwisserei, das Manifestartige, all das ging mir bei der Lektüre sogenannter Beat-Literatur meist gehörig auf den Keks. Fausers Roman habe ich jedoch wirklich gerne gelesen. Seine Texte wirken auf mich vielseitiger und weit weniger abgestanden. Das hat verschiedene Gründe.

Da ist die ironische Distanz, mit der das Geschehen betrachtet wird. Diese hat zwei Ebenen. Zum einen ist der Erzähler Gelb selbst ironisch distanziert, er betrachtet die Vorgänge um sich herum meist wie von außen, auch wenn er mitten im Geschehen ist. Gelb ist natürlich Fausers jüngeres Ich. Doch indem Fauser seiner Figur einen anderen Namen gibt und indem er die Ereignisse mit 20 Jahren Abstand und entsprechend nach 20 Jahren Reflexionszeit schildert, hat auch Fauser eine ironische Distanz zu Harry Gelb. Der ist bisweilen so überheblich wie Kerouacs Helden, doch durch die Ferne zwischen Erzähler und Autor gibt es einfach viel mehr Selbstironie als in „On the Road“.

Davon abgesehen hat Fauser eine temporeiche, pointierte Schreibe. Jedes Kapitel wirft ein neues Schlaglicht auf eine Station in Gelbs Leben und gleichzeitig auf eine Episode bundesrepublikanischer Wirklichkeit. Man ist immer sofort im Geschehen. Fauser kann die vielen Figuren, die die Geschichte bevölkern, sehr lebendig machen. Der Kontrast zwischen freigeistigem Anspruch und gelebter Engstirnigkeit der 68er ist dabei immer wieder Gegenstand satirischer Betrachtungen.

Fazit

Temporeich, unterhaltsam und eine zeitgeschichtlich interessante Betrachtung der westdeutschen Untergrundszene der 1970er Jahre. Nicht abgestanden wie die Beatliteratur, sondern immer noch frisch und relevant. Zurecht will der Diogenes Verlag Fauser mit seiner Werkausgabe vor der Vergessenheit bewahren.