Rezension von Marion

Der Roman „Das Genie“ von Klaus Cäsar Zehrer liest sich wie eine fantastische Geschichte, erzählt aber über das wahre Leben von William James Sidis, dem Wunderkind aus den Staaten. Geboren 1898 in New York City, gestorben 1944 in Boston. Der Autor ist auf jemanden gestoßen, der fantastisches erreicht und erlebt hat, aber fast in Vergessenheit geraten ist, kaum jemand kennt William James Sidis. Durch diese Tatsache wurde auch die Recherchearbeit erschwert, aber es gibt noch einige zuverlässige Aufzeichnungen, beispielsweise die der jüngeren Schwester Sidis. Basierend auf diesen Unterlagen erschuf Zehrer diesen Roman, um das längst vergessene Wunderkind William James Sidis.

Boris Sidis wandert aus der Ukraine in die Vereinigten Staaten. Er hat es nicht leicht, er ist ein Denker, hat zwei linke Hände. Mit Menschen kommt er nicht gut aus, da er alles durchdenkt und kein Blatt vor den Mund nimmt. Der Zufall will es, dass Boris anderen Leuten englisch beibringt, gegen eine gute Bezahlung. Er selbst hat es sich durch Bücher innerhalb kürzester Zeit selbst beigebracht. Er kann nun etwas tun, was ihm liegt, er kann seinen Verstand nutzen, denn laut Boris ist dies das einzig wichtige. So lernt er Sarah Mandelbaum kennen, die bei ihm Unterricht nimmt. Sie verliebt sich in ihn und die beiden heiraten. Boris ermutigt Sarah zu studieren, zu dieser Zeit noch eine Sensation. Boris promoviert unterdessen als Psychologe. Er hat erstaunliche Entdeckungen gemacht. Unter Hypnose kann er das Bewusstsein der Menschen so ausrichten, dass sie zu Dingen in der Lage sind die sie vorher nicht konnten.

Als Sarah schwanger wird, ist Boris klar, dass er seinem Kind helfen muss, die beste Bildung zu erhalten, und das von klein auf an.

So kommt es, dass der kleine William James, wenige Tage alt, bereits von seinen Eltern unterrichtet wird. Er lernt schnell lesen, und verschiedene Sprachen zu sprechen. Bald schon wird das Konzept als Sidis-Erziehungsmethode bekannt. Und diese trägt tatsächlich Früchte. William James, Billy genannt, durchläuft mit wenigen Jahren die komplette Schule und ist mit 11 Jahren ein Harvard-Student.

Doch der Ruhm, ein Wunderkind zu sein, hat auch seine Schattenseiten. Billy hat sich nie wie ein „normales“ Kind verhalten, nie gespielt. Benehmen ist ihm ein Fremdwort, er sagt, wie sein Vater, alles frei heraus. Taktgefühl wird in der Sidismethode nicht gelehrt. Sein Wissen wird als Besserwisserei angesehen, die wesentlich älteren Mitschüler mögen Billy nicht, doch dieser hat ohnehin keine Ambitionen Freundschaften zu schließen, er bleibt für sich und nutzt jede freie Minute zur Weiterbildung.

Als Erwachsener zieht Billy sich zurück. Er distanziert sich von allem was ihn und sein Wissen in den Mittelpunkt stellt. Er will kein Vorzeigemodel mehr für die Methode seiner Eltern sein. Sein weiterer Weg zeugt von einer gewissen Erkenntnis, aber lesen sie selbst, es lohnt sich.

Dieser Roman ließ mich grübelnd zurück. Er zeigte mir, dass Bildung nicht alles ist. Ich hatte oft Mitleid mit Billy, obwohl ihm, vor allem als Kind, nicht bewusst war, was ihm fehlt. Man kann sich streiten, was die wahre Erfüllung im Leben ist. Ein gesundes Mittelmaß scheint mir eher angebracht. Dieses Leben, das William James Sidis gezwungener Maßen geführt hat, weil sein Verstand immer das wichtigste war, hat ihn wohl nicht glücklich gemacht. Wärme, Nähe war nie ein Teil der Erziehung. Er wurde zwar gut versorgt, ihm fehlte es an nichts, aber braucht ein Mensch nicht auch Liebe um zu leben? Ein Kind ist kein Projekt, mit dem einzigen Ziel das beste Resultat zu erzielen.

Ein wenig hält der Autor so auch unserer heutigen Gesellschaft den Spiegel vor. Kinder müssen viel leisten, ihr Abitur mit Bravur meistern. Billy ist ein krasses Beispiel, aber dieses Streben ist da, wird es wohl immer sein. Durch sein Werk regt Klaus Cäsar Zehrer zum nachdenken an, vielleicht sollten wir nicht allzu verbissen den falschen Idealen nachrennen.

Dieser Roman bekommt von mir 4 von 5 Sternen. Ein tolles Werk!