Rezension von Ramon

Die bewegte Geschichte eines Berliner Bezirks erzählt die Historikerin Regine Scheer in ihrem zweiten Roman „Gott wohnt im Wedding“. Sie spinnt dabei verschiedene Erzählfäden, die sich alle in einem Mietshaus in der Utrechter Straße kreuzen. Scheer spannt dabei den Bogen von 1918 bis zur Gegenwart. 1918 wird in dem Haus die hübsche Gertrud geboren, eine der Hauptfiguren. Während der NS-Herrschaft versteckt sie zwei jüdische Jungen aus der Nachbarschaft, Manfred und Leo. Leo kehrt nach über 70 Jahren aus Israel nach Deutschland zurück. Eigentlich möchte er nur eine Erbangelegenheit klären, doch natürlich sind mit seiner Rückkehr viele Erinnerungen verbunden. Und vor allem offen gebliebene Fragen, auf die er eine Antwort sucht. Leo wird begleitet von seiner jungen Enkelin Nira. Diese steht der isrealischen Siedlungspolitik ablehnend gegenüber und ist von Berlin so angetan, dass sie hier bleiben möchte. Ausgerechnet im Wedding, dort, wo Leo sich so lange verstecken musste. Eine weitere Hauptfigur ist die junge Leila, die sich mit ihrer Sinti-Herkunft bisher nicht groß beschäftigt hat und dann feststellen muss, dass schon ihre Familie in dem Haus gewohnt hat, wo sie schließlich Opfer von Verfolgung wurde.

Das Haus als Erzähler

Die Kapitel um die Haupthandlungsstränge werden immer wieder von kursiv gesetzten Passagen unterbrochen, in denen das Haus selbst zu Wort kommt. Dieser Kniff hat mir besonders gut gefallen. Auf diese Weise kann Scheer die Einzelschicksale ihrer Hauptfiguren in einen größeren Rahmen stellen, kann Gegenwart und Historisches noch besser verweben und eine Geschichte des ganzen Bezirks erzählen. Das Haus als Erzählinstanz erlaubt eine Verknüpfung von Psychologie und Soziologie, es verkörpert sozusagen eine Summe aus den Bewohnern von über hundert Jahren: „All ihre Leben habe ich in mich aufgenommen, durch sie lebe ich selbst, auf meine Weise“. Durch das Haus erfahren wir auch noch mehr über die Arbeitsmigranten aus Polen, die Geschichte des Weddings, über Wanderarbeiter und nächtliche Tiere, über Hausbesetzungen, Verfolgung, Armut und Kriminalität bis hin zur Mietverdrängung. Mittlerweile ist das Haus müde und hört seinen Bewohnern nicht mehr immer zu, denn „es ist, als ob sich alles wiederholt in meinen Mauern, die immer brüchiger werden. Und ich kann nichts machen, die Menschen verstehen mich nicht.“ Trost findet das Haus bei den Tieren. So hofft es, in der Nacht werde wieder die alte Füchsin vom Friedhof zu ihm herüberkommen.

Fazit

Viele Themen werden hier verhandelt: Verfolgung, Flucht ins Exil, menschliche Charakterstärke und Charakterlosigkeit, Solidarität und Opportunismus, Vorurteile und Raffgier, aber auch Menschenliebe. Die Erzählweise fand ich manchmal etwas trocken. Ungewöhnlicherweise hat mich die Perspektive des Hauses am meisten berührt. Besonders auf der zeitgeschichtlichen Ebene hat mich der Roman vollstens überzeugt – das ist alles sehr gut recherchiert und erhellend kontextualisiert, gerade im Hinblick darauf, was uns die Vergangenheit auch über die Gegenwart erzählen kann. Die Autorin hat in Wedding ein Erzählcafé moderiert und es sind hier bestimmt auch viele tatsächliche Lebensgeschichten eingeflossen. Spannend fand ich auch die Darstellung der isrealischen Generationenkonflikte.

Jedem zu empfehlen, der sich für jüngere deutsche Geschichte, den Wedding oder auch das Schicksal der deutschen Sinti und Roma interessiert. Gerade zu letzterem gibt es bisher noch nicht viel Literatur.

Hintergrund-Info

Berlin-Wedding wurde Ende des 19. Jahrhunderts zu einem dicht bebauten Arbeiterbezirk, in dem viele in den berüchtigten Mietskasernen lebten. Die Innenhöfe in diesen Kasernen waren mit 5,34 x 5,34 Metern gemäß baupolizeilicher Vorschrift gerade so groß, dass bei einem Brand noch die Feuerwehrspritze benutzt werden konnte. In den 1920ern bekam der Bezirk den Spitznamen „Roter Wedding“, weil mit großer Mehrheit SPD und KPD gewählt wurde und es eine starke Arbeiterorganisation gab. Noch bei der Wahl im März 1933 war die KPD hier die stärkste Kraft. Am 1. Mai 1929 kam es zu blutigen Zusammenstössen mit der Polizei, bei denen zahlreiche Arbeiterinnen und Arbeiter ums Leben kamen. Ab den 1970er Jahren siedelten sich im Wedding zahlreiche Einwanderer an und gaben dem Bezirk sein heutiges multikulturelles Gepräge. Heute ist der Bezirk wie alle Bereiche der Berliner Innenstadt von Gentrifizierung betroffen.