Rezension von Ramon

Inhalt

Saša Stanišić, geboren 1978, ist im Alter von etwa 15 Jahren aus Bosnien und Herzegowina mit seinen Eltern nach Heidelberg geflüchtet. Über sein Aufwachsen in Deutschland und seine Entwicklung zum Schriftsteller schreibt er in diesem Buch. Gleichzeitig aber auch über das Dorf, aus dem er kommt und in dem nur noch dreizehn Menschen leben, über seine Verwandten im ehemaligen Jugoslawien, die er jetzt besucht und die zahllosen Geschichten, die sie zu erzählen haben.

Aufwachsen in einem fremden Land

Mich haben dabei besonders die Passagen berührt, in denen der jugendliche Stanišić sich als Geflüchteter in der deutschen Fremde einzufinden versucht. Widrigkeiten und Ausgrenzungserfahrungen beschreibt er ohne anklagend zu werden, poetisch und humorvoll. So gibt es ein Kapitel, in dem die Grammatik plötzlich von der ersten in die zweite Person wechselt und ein „Sven“ angesprochen wird. Der Erzähler und seine migrantischen Freunde sind auf einem Platz im Emmertsgrund, auf dem auch Sven mit seinen Kumpels („Sven’s Jungs“ steht auf ihren T-Shirts) Junggesellenabschied feiert. Es dauert nicht lange, bis die Migranten aufgefordert werden, zu verschwinden. Die Bemerkung „Das ist deutscher Wald, ihr Pisser“ interpretiert Stanišić nachträglich als Versuch, „Eichendorff in die Gegenwart zu holen“. Rasant durchdringt Stanišić als Jugendlicher die deutsche Sprache und Dichtung. Für ihn auch ein Weg, die eigenen Fremdheitsgefühle zu überwinden. Längst hat er mit seiner Diktion nicht nur die „Sven’s“ des Landes überflügelt.

Natürlich geht es auch um den  Bosnienkrieg und die Verheerungen, die der Nationalismus im früheren Vielvölkerstaat Jugoslawien angerichtet hat. Aus seinen Erlebnissen sowohl in der alten wie der neuen Heimat heraus wendet der Autor sich gegen jedes „Fetischisieren von Herkunft“ und plädiert „für das Dazugehören“.

Das Spielbuch als Metapher

Im langen Schlussteil „Der Drachenhort“ schlüpft der Leser, ganz in der Tradition der Abenteuerspielbücher, selbst in die Rolle von Stanišić. Er wird immer wieder vor Entscheidungen gestellt und kann dann bei dem ausgewählten Textabschnitt weiterlesen.

Mit dem Genre des choose-your-own-adventure haben auch schon andere zeitgenössische Werke experimentiert, neben J.M. Moeringers „Tender Bar“ etwa Nathan Hills „Geister“. Nicht von ungefähr, lädt das Konzept solcher Spielbücher doch geradezu ein, in metaphorischer Absicht aufgegriffen zu werden. Ging es Nathan Hill in „Geister“ dabei vor allem um Fragen der Willensfreiheit, so finden in dem Spielbuch-Ende von „Herkunft“ verschiedene Themen des Romans eine formale Entsprechung: Die unterschiedlichen Perspektiven und Identitäten, die Vielzahl an Geschichten und die Mischung aus Zufall und Entscheidung, die einen zu unterschiedlichen Schicksalen führt. Vielleicht ist es auch nicht willkürlich, dass sowohl das „Sven-Kapitel“ als auch dieser Schlussteil in der zweiten Person geschrieben sind. Wenn es am Anfang von „Der Drachenhort“ heißt, „Du bist ich“, sind damit ja auch „Sven’s Jungs“ wieder mit im Boot und zum Perspektivwechsel eingeladen. Ein gelungener Abschluss, auch weil er wie das ganze Buch stets Motive aus der jugoslawischen Heimat – etwa die Drachenmythen – mit Motiven aus Stanišićs deutscher Sozialisation verbindet – etwa dem Fantasy-Rollenspiel „Das schwarze Auge“.

Fazit

Für mich ist das Buch eine Mischung aus Roman, Autobiografie und Essay. Von mir aus hätten die essayistischen Elemente an manchen Stellen zurückgenommener sein können, so wäre „Herkunft“ zu einem stärker zeitlosen Buch geworden. Außerdem hätte es dem Leser mehr Raum gegeben, die Schlussfolgerungen aus den dicht ineinander verwobenen Geschichten selbst zu ziehen. Doch das ist nur ein ganz kleiner Einwand. Davon abgesehen ist „Herkunft“ ein buntes und sprachlich sehr gelungenes Buch mit einem wichtigen Thema, das formal originell bearbeitet wird. Besonders gefallen hat mir, wie Stanišić mit verschiedenen Genres spielt, mal nüchtern und sachlich schreibt, dann wieder sehr verschnörkelt und gefühlsbetont. Auf diese Weise gelingt es ihm, der Vielschichtigkeit der Herkunftsfrage gerecht zu werden. Ausgezeichnet und berührend geschrieben.