Rezension von Ramon

Inhalt

An einem Tag im Dezember 1974 darf der 16- jährige Michel das Motorrad seines älteren Bruders Joseph fahren, der währenddessen auf dem Gepäckträger Platz nimmt. Ein Moment, der Michel mit Stolz und Glück erfüllt und der in der Rückschau immer wieder beschworen wird. Von Anfang an spürt der Lesers Michels große Liebe zu seinem Bruder und fühlt dessen Schmerz, denn Joseph wird sterben.

Der Vater der beiden ist Bauer und hängt an seiner Scholle, doch Joseph ist Bergmann geworden. Gegen den Willen des Vaters, der ihn auf jede nur erdenkliche Weise davon abzubringen versucht hat. Schließlich sind schon viele Bergarbeiter aus der Gegend „unten“ geblieben, bei Unfällen in der Zeche gestorben. Doch als Joseph damals seinen „Bergarbeiterstolz“ in die Diskussion einbrachte, wusste der Vater, dass er verloren hatte. Dem war nichts entgegenzusetzen.

Noch ist Michel glücklich, doch am nächsten Morgen wird Joseph mit den anderen Kumpeln in die Zeche einfahren. An diesem Tag, am 27. Dezember 1974, geschieht das große Unglück von Saint-Amé und 42 Bergarbeiter kommen ums Leben. Michels Bruder Joseph stirbt erst einen Monat später im Krankenhaus. Deswegen landet er nicht mit den anderen 42 Opfern der Grube auf der Gedenktafel, deswegen bleibt sein Name immer unerwähnt. Michel kann das nicht verarbeiten und widmet sein Leben dem Gedenken an seinen verstorbenen Bruder. Er graviert sich den Namen seines Bruders „ins Gehirn, in die Eingeweide und ins Herz“, errichtet in seinem Schuppen eine Art Mausoleum. Dort hängt nicht nur der Grubenhelm und die Arbeiterkluft des Bruders, dort füllt er auch ein Heft nach dem anderen mit Zeitungsartikeln und Analysen über das Unglück. Aus Kostengründen hatte man an Sicherheitsvorkehrungen gespart. Man wollte den Kohleabbau ja ohnehin bald einstellen, also nahm man es nicht mehr so genau. Jetzt ging es nur noch darum, so viel wie möglich herauszuholen. Michel will einen Schuldigen finden und macht als solchen schließlich den Steiger Lucien Dravelle aus. Der habe immer gesagt „zu viel Sicherheit mindert den Ertrag“, der habe die Grube nicht auf Grubengas kontrolliert, habe seine Arbeit nicht gemacht. Lange sucht er nach Dravelle und erst 40 Jahre nach dem Unglück spürt er ihn auf und beschließt, Rache zu nehmen, Dravelle zu töten …

Doch hier nehmen die Geschehnisse einige radikale Wendungen. Nach fast zweihundert Seiten gelingt Chalandon ein unerwarteter Twist, der die Geschichte in einem ganz anderen Licht erscheinen läßt.

Chalandons Roman verbindet eine fiktive Familiengeschichte mit einem realen Unglück. All die grausigen, an Perfidität nicht zu überbietenden Details, die im Zusammenhang mit dem Bergunglück genannt werden, sind korrekt recherchiert. Bis hin zu den drei Tagen Monatslohn, die den gestorbenen Bergarbeitern abgezogen wurden (das Unglück geschah ja am 27.12.) Der Autor lässt die fast untergegangene Welt der Bergarbeiter unmittelbar und plastisch wieder aufleben. Die harten und ausbeuterischen Arbeitsbedingungen. Die gesundheitlichen Folgen der Arbeit. Aber auch den Stolz der Bergleute und ihre Solidarität untereinander. Die Schönheit der Bergarbeitersprache mit ihren vielen eigenen Begriffen: Steiger, Pochjunge, Hasenbrot …

Doch der Roman gleitet keinesfalls in Sentimentalität oder die Zweidimensionalität mancher sogenannter „engagierter Literatur“ ab. Denn der Erzähler hat es in sich. Während wir ihm gebannt folgen und seine Wut teilen, tut sich ein doppelter Boden auf. Und bald entwickelt sich die Geschichte zu einer höchst komplexen Auseinandersetzung mit den Themen Schuld, Vergeltung und Recht. Final mündet alles in eine Gerichtsverhandlung, die einer philosophischen Versuchsanordnung gleicht.

Wer ist Täter und wer Opfer? Was ist eigentlich, wenn ein Opfer gar keine Vergeltung will? Was ist, wenn einer sich als Täter fühlt und vergeblich auf Vergeltung hofft? Was ist Recht? Muss es immer durchgesetzt werden, auch wenn weder Täter noch Opfer das wollen?

Vor dem Hintergrund dieser immer philosophischer werdenden Auseinandersetzung ist es auch verschmerzbar, dass sowohl die Erzählperson als auch bestimmte Handlungselemente zum Schluss etwas konstruierter wirken als in der ersten Hälfte des Romans.

Fazit

Chalandons Roman liest sich spannend wie ein Krimi, auch wenn er natürlich weit mehr als das ist. Zum einen ein würdiges Gedenken der 42 gestorbenen Bergarbeiter von Saint-Amé und ihrer Angehörigen. Zum anderen eine der spannendsten und nuanciertesten Auseinandersetzungen mit Schuld, Vergeltung und dem Justizsystem, die ich je gelesen habe. Ein Buch, das nachwirkt.