Rezension von Ramon

Jamie ist sechs Jahre alt und lebt mit seiner Mutter Tia, einer Literaturagentin, in Manhattan. Er führt ein recht normales Leben, mit einer Ausnahme: Er kann tote Menschen sehen. Sie tauchen für gewöhnlich am Ort ihres Todes auf und verschwinden dort erst nach einigen Tagen. Für Jamie ist das nicht weiter beunruhigend, da er es nicht anders kennt. Bis auf Ausnahmen jedenfalls, wie einer unheimlichen Begegnung, die er einmal im Central Park hatte.

Als die Frau des Nachbarn Mr. Burkett stirbt, stellt Jamie fest, dass er nicht nur mit den Toten sprechen kann, sondern sie ihm sogar alle seine Fragen sofort wahrheitsgemäß beantworten müssen.

Weil er aus diesem Grund oft Dinge erfährt, die er eigentlich gar nicht wissen kann, glaubt ihm seine Mutter Tia bald. Doch sie beschwört ihn, niemals jemandem davon zu erzählen.

Doch eines Tages macht sie es selbst. Tia ist mittlerweile in finanziellen Schwierigkeiten und macht sich Sorgen, wie sie später die College-Gebühren für ihren Sohn bezahlen soll. Da stirbt auch noch unerwartet ihr wichtigster Autor, bevor er den Abschlussband seiner schwülstigen Wildwest-Bestsellersaga fertig geschrieben hat. Nun weiht sie ihre Lebensgefährtin Liz ein, eine Polizistin des NYPD. Die soll Tia und Jamie zum Grundstück des gerade Verstorbenen fahren, damit Jamie ihn datailliert nach den Geheimnissen befragen kann, die in seinem letzten Roman endlich gelüftet werden sollen. Der Plan: Tia, die ohnehin schon die letzten Romane des Autors überarbeitet hat, wird den Roman dann einfach selbst fertig schreiben und behaupten, der Autor habe ihr vor seinem Tod noch das fertige Manuskript geschickt. So kommt sie wenigstens noch an die 15 % Provision, mit der sie als Agentin am Verkaufserfolg beteiligt wird. Jamie gelingt es tatsächlich, dem verstorbenen Autor seine Geheimnisse zu entlocken und das Buch wird ein großer Erfolg. Doch dann geschehen schreckliche Dinge …

Leseeindrücke

Bei der Grundidee werden sicher viele gleich an den Film „The Sixth Sense“ denken, der im Roman auch erwähnt wird. King gibt dieser Idee jedoch einen völlig anderen Dreh, so dass die Ähnlichkeit schnell vergessen ist. Der Bestseller Roman ist rasant erzählt und nimmt viele unvorhergesehene Wendungen. Jamies Begegnungen mit den Toten sind anfangs vor allem von viel Situationskomik getragen, erst allmählich schleicht sich der Horror ein. 

Wie oft greift King nebenbei auch Themen der US-amerikanischen Gegenwart auf. Die Folgen der Fianzkrise etwa. Oder die immer tiefer werdende Spaltung zwischen Republikanern und Demokraten, die hier am Beispiel der Beziehung zwischen Tia und Liv gezeigt wird.

Mehrdeutiger Titel

„Das Ganze hier ist wohl eine Horrorstory. Also dann mal los.“ Schon nach der kurzen Einleitung steht der Leser ganz im Bann der Geschichte. Dabei ist der Titel brilliant gewählt und bringt gewitzt auch das ganze Handwerk des Spannungsschriftstellers auf den Punkt. Das besteht daraus, so viele Fragen wie möglich aufzuwerfen. Alle diese Fragen sind Versprechungen auf Antworten.

Warum ist das Ganze eine Horrorstory? Was ist damals im Central Park passiert? Warum war es schlecht, dass Jamies Mutter sich mit einer Polizistin namens Liz Dutton einließ? Welche unbequeme Wahrheit wird Jamie über seine Mutter erfahren? Andeutungen über Andeutungen, und die Antworten bekommt der Leser natürlich – später …

Schon immer hat King viel mit Vorausdeutungen gearbeitet. In diesem Roman treibt er dieses Stilelement auf die Spitze. Das funktioniert deshalb so gut, weil die Perspektive stimmt. Der junge Ich-Erzähler verwendet viel Umgangssprache und man nimmt ihm seine Sprunghaftigkeit („aber dazu komme ich noch“) total ab. Auch spielt sich der Hauptteil der geschilderten Ereignisse zwischen seinem sechsten und dreizehnten Lebensjahr ab, als er vieles noch nicht begriffen hat. In der Gegenwart, von der aus er rückblickend erzählt, ist der Erzähler 22. Erst jetzt kann er die Dinge besser einordnen. Doch ihm ist klar, dass selbst seine heutige Sicht der Dinge ihm morgen vielleicht schon naiv erscheinen wird. „Es gibt immer ein später, zumindest bis wir sterben.“

Obwohl King alle Versprechungen einlöst und eine runde Geschichte erzählt, endet der Roman ohne jeden Spannungsabfall mit einer letzten großen Frage. Es gibt ein „später“, das nicht mehr erzählt wird, ganz wie in den Horror-Klassikern von H.P. Lovecraft.

Fazit

„Später“ ist eine berührende Geschichte vom Erwachsen werden wie „Die Leiche“, „Atlantis“ oder „Joyland“. Gleichzeitig ist es spätestens ab der zweiten Hälfte auch eine knackige Horrorstory, wie wir sie aus Stephen Kings frühen Werken kennen. Die Mischung aus Reifegeschichte, Mystery-Krimi und Horror entfaltet ihren ganz eigenen Sog und sorgt für atemloses Lesen. Mit rund 300 Seiten ist sie für King’sche Verhältnisse kurz und genau die richtige Portion für ein intensives Lesewochenende.