Rezension von Ramon

Inhalt

Der Musik- und Kulturjournalist Jens Balzer schreibt in diesem Buch eine Kultur- und Sozialgeschichte der siebziger Jahre. Dabei stehen die Wechselwirkungen zwischen Populärkultur und gesellschaftspolitischen Entwicklungen und Ideen dieses Jahrzehnts im Vordergrund.

Für Balzer beginnen die 70er Jahre 1969 mit Woodstock und der Mondlandung und sie enden 1978 mit dem Beginn des digitalen Zeitalters. In 24 Kapiteln widmet sich der Autor einem Jahrzehnt, in dem, wie er es ausdrückt, die Zukunft wichtiger wurde als die Vergangenheit. Pop wird nach Balzer in den Siebzigern die Basis des kulturellen Wandels und begründet den „Resonanzraum“ der „gemeinsamen westlichen Kultur“, deren Zerfall sich in unserer Gegenwart andeutet.

Nach den Utopien der Hippies und der Bürgerrechtsbewegungen in den 60ern kommt besonders in den USA (ganz ähnlich wie heute) das Gefühl bei der „schweigenden Mehrheit“ auf, dass ihre Probleme gegenüber den Partikularinteressen von Minderheiten vernachlässigt werden. So kommt 1968 Richard Nixon an die Macht, die Politik wird konservativer. Doch eine Gegenkultur entwickelt sich. Deren „utopische Gewissheiten“ zerfallen bald, doch daraus entstehen neue Dinge. In „Das entfesselte Jahrzehnt“ geht es um die Unterschiede zwischen Mythos und Wirklichkeit, die Sehnsucht nach Zukunft und Veränderung und die Verwirrungen, die damit verbunden sind.

Neue Perspektiven und Verknüpfungen

Zu Beginn habe ich direkt die Kapitel angesteuert, die mich am meisten interessieren, doch davon bin ich bald abgekommen. Balzer verknüpft seine Themen teilweise sehr geschickt miteinander und baut Argumentationen kapitelübergreifend auf. Hieran hat mir besonders gefallen, dass er dabei immer wieder Themen miteinander verknüpft, die man so wahrscheinlich noch nicht zusammen gedacht hat und so eine neue Perspektive ermöglicht.

Ein Beispiel: Als erfolgreichste kulturelle Produkte im Westdeutschland zu Beginn der 70er Jahre nennt Balzer den Herrn der Ringe, die Perry Rhodan-Heftromane und die Schulmädchenreport-Filme. Er erkennt hier drei zentrale zeittypische Motive, nämlich Kritik an der Industrialisierung, technischer Fortschrittsglaube und Interesse an sexueller Entfesselung. Erst die feministische Science Fiction der 70er mit erfolgreichen Autorinnen wie Ursula K. Le Guin führe aber diese drei Themen zusammen, die sonst separat voneinander und altbacken patriarchal verhandelt worden wären.

Noch ein Beispiel: Woodstock und die Mondlandung als die zwei großen Massenereignisse von 1969. Bei beiden geht es um einen Aufbruch. Die Hippies in Woodstock streben nach „harmonischer Diversität“, sind aber in sich eine recht gleichförmige Gruppe. Real findet sich die Diversität unter den Menschen, die den Start der Apollo-11-Rakete verfolgen. Erst die Disco-Musik wird Mitte der 70er erstmals richtige Diversität im Pop verbreiten.

Es gibt aber noch andere, erschreckendere Verbindungen, etwa die zwischen dem wahnsinnigen Massenmörder Charles Manson und den westdeutschen Terroristen. Oder auch den Faden, der sich von David Bowie über die Sex Pistols bis hin zum mordenden NSU-Trio zieht. Wer weiß heute noch, dass Bowie in den Siebzigern als erster großer Popstar faschistische Ästhetiken aufgriff und seine Bewunderung für Adolf Hitler äußerte, den er als einen der ersten Rockstars bezeichnete? Ob ernst gemeint oder nicht, später griffen dann Bands wie die Sex Pistols das Spiel mit Nazi-Symbolik auf. Oft wird das im Punk als reine Provokation verharmlost, doch schnell entwickelte sich hier neben einer linken und einer politisch indifferenten auch eine rechtsgerichtete Szene. In dem legendärsten Punk-Konzert der Sex-Pistols 1976 war auch ein junger Mann namens Ian Stuart Donaldson, der später das Neonazi-Netzwerk „Blood and honour“ gründete. Dieses ist heute längst über ganz Europa ausgebreitet, auch die Mörder des NSU waren darin vernetzt.

Manchmal mit heißer Nadel gestrickt

Manche Kapitel finde ich ganz hervorragend gelungen, sie stecken voller kluger Beobachtungen und die Dinge werden miteinander in Zusammenhang gesetzt. In manchen Kapiteln haben mich dagegen zu lange rein beschreibende oder wiedergebende Passagen gestört. Oft geht es um Dinge, die im kulturellen Gedächtnis der meisten Leser enthalten sein dürften, die Sesamstraße, Ekel Alfred, Tiefkühlpizza oder Star Wars zum Beispiel. Diese Dinge werden so umständlich und lange beschrieben, als müsste Balzer einem Außerirdischen erklären, worum es sich dabei handelt. Dies steht in keinem Verhältnis zu den in diesem Fall dann relativ wenigen Gedanken oder Kontextualisierungen. Geht es hier vor allem um ein gemeinsames Erinnern in der Art von „hach, so war das damals“? So funktionieren ja auch die Retro-Shows im Fernsehen, bei denen dann gerne noch Prominente eingeblendet werden, die ihren Senf zu allseits bekannten Fernsehsendungen etc. abgeben. Hier verliert sich Balzers kulturanalytischer Fokus.

Diese Passagen hätte man stark kürzen können, um dafür an anderer Stelle tiefer zu beleuchten. So konzentriert sich das Buch, wie die meisten popkulturellen Abhandlungen, ausschließlich auf „den Westen“ bzw. vor allem Großbritannien, die USA und Westdeutschland. Dabei hätte ich wirklich darauf gebrannt, etwas über Beziehung zwischen Popkultur und sogenanntem Ostblock zu erfahren. Wenn Pop in den 70ern den „Resonanzraum“ einer „gemeinsamen westlichen Kultur“ begründet, welche Resonanzen erzeugte Pop dann beispielsweise in der DDR?

Vielleicht entstanden solche deskriptiven Passagen ja auch, weil Balzer das Buch schnell fertigstellen wollte. Die Kapitel erscheinen mir jedenfalls unterschiedlich gut ausgearbeitet und durchdacht. Dazu würden auch die gelegentlichen Schludrigkeiten passen. So wird aus dem Musikproduzenten Michael Kunze (302) etwas später plötzlich ein Michael Schulze (303). Oder, gravierender, Juliane Werding wird auf S. 218 als Komponistin des Songs „Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur du denkst (ein Mädchen kann das nicht)“ genannt. Balzer bezeichnet dieses Lied als „das meistmitgesungene Lied für die westdeutsche Frauenemanzipation“. Geschrieben hat den Song aber tatsächlich Gunter Gabriel für die „Marke“ Juliane Werding, was in diesem Kontext ja nicht einer gewissen Ironie entbehrt.

Dazu kommen Formulierungen, die sich in einer gewissen Penetranz wiederholen, wie „also“ und „so könnte man sagen“. Hier hat man das Gefühl, ein Vortragsmanuskript in der Hand zu halten.

Fazit

Trotz der genannten Kritikpunkte ist „Das entfesselte Jahrzehnt“ eine spannende und anregende Lektüre, die viele Denkanstösse gibt. Die „guten Passagen“ sind so gut geschrieben, dass man über die zu langen Beschreibungen hinweglesen kann. Tatsächlich habe ich bei der Lektüre abends  vollkommen die Zeit vergessen. Ein überfälliges Buch, in dem man nach der Lektüre immer mal wieder nachschlagen wird.