Rezension von Ramon

Eines der ersten sozialpolitischen Gesetze in Europa war die Armengesetzgebung, deren erste Fassung 1601 von Elisabeth I erlassen wurde. Finanziert über die Armensteuer hatte jeder Bedürftige Anspruch auf Versorgung mit dem Lebensnotwendigsten durch die Gemeinde. Obwohl man nach und nach mit verschiedenen Massnahmen den „Missbrauch“ dieser Leistungen mit Verschärfungen der Gesetze – etwa durch Einführung von Arbeitshäusern oder Schandmalen für jene, die Leistungen in Anspruch nahmen – einzudämmen versuchte, vergrößerte sich die Armut immer weiter, bis die Ausgaben für Arme zum teuersten Posten der kommunalen Haushalte wurden. In diesem Kontext verfasste der britische Arzt, Geologe und Priester Joseph Townsend 1786 seine „Streitschrift eines Menschenfreundes“ gegen die Armengesetze.

2011 ist die Schrift erstmals in einer deutschen Übersetzung erschienen, mit einem ausführlichen Nachwort des Ökonomen Philipp Lepenies, der sowohl auf die Parallelen zwischen Townsends Text und aktuellen Armutsdebatten hinweist als auch den großen ideengeschichtlichen Einfluss dieses heute nur wenig bekannten Werks hervorhebt. 

Von Ziegen, Windhunden und Faultieren

Zehn Jahre nachdem Adam Smith im „Wohlstand der Nationen“seine Theorie sich selbst regulierender Märkte entwickelte, sucht Townsend ein Gesetz, mit dem sich die steigende Armut trotz stetig steigender Ausgaben zu ihrer Bekämpfung erklären lässt. Nach seiner Ansicht hat er es auf der Südseeinsel Juan Fernandez entdeckt. Dort setzte ihr Entdecker ein Ziegenpaar aus. Dieses fand ein Überangebot an Nahrung vor und vermehrte sich so lange, bis die Insel übervölkert war. In der folgenden Hungerkatastrophe starben die schwächsten Ziegen, worauf die Stärksten wieder viel Nahrung hatten und sich vermehrten, so dass sich im weiteren Verlauf Überfluss und Knappheit immer abwechselten. Später setzte man ein Paar Windhunde auf der Insel aus, die sich aufgrund des großen Angebots an Ziegen schnell vermehrten und alle Ziegen fraßen, die nicht geschickt genug waren sich zu verstecken. Nun kam es zu einem Gleichgewicht von Ziegen und Hunden, bei dem jeweils in der Phase der Knappheit die Schwächsten beider Arten starben und die Stärksten überlebten. Townsend überträgt dieses Beispiel auf die „species humana“, deren Größe sich seines Erachtens ebenfalls anhand der Nahrungsmenge reguliert. Er nimmt hier, wie Lepenies in seinem Nachwort bemerkt, zwei Theorien vorweg: Malthus‘ Bevölkerungsprinzip und Darwins Idee der natürlichen Selektion.

Bei der Lektüre der „Streitschrift“ fällt zunächst auf, dass Townsend wesentlich polemischer und provokativer formuliert als Malthus oder Townsends Freund Jeremy Bentham, die beide die Armengesetze ebenfalls kritisierten. Townsend schreibt anfangs noch, der Anblick der Armen sei besonders bedauerlich, wenn diese „sich durch Fleiß, Ehrlichkeit und Abstinenz ausgezeichnet haben, was manchmal der Fall ist“ und differenziert die Armen in „Faule“ und „Bedürftige“. Auch später betont er noch den Unterschied zwischen „Verschwendern“, die mitgespeist werden und „Not leidenden Tugendhaften“. Im zweiten Kapitel übt Townsend Kritik an der Gesetzgebung, welche den „fleißigen Armen“ die Abwanderung in Gemeinden erschwert, in denen sie Arbeit finden könnten. Im weiteren Verlauf der Argumentation löst sich die Differenzierung zwischen faulen und fleißigen Armen zunehmend auf, bald beginnt Townsend, die Armen als trunksüchtige Faultiere zu beschimpfen, die aufgrund der Armengesetze die Landbesitzer ausbeuten (da diese nun höhere Löhne zahlen müssen, als wenn der Hunger die Armen in ihre Dienste zwingen würde).

Die Naturalisierung der Armut

 Nach dem Gleichnis von den Ziegen und Hunden dürfte die Unterscheidung zwischen unverschuldeter und verschuldeter Armut ohnehin keine Rolle mehr spielen: „Der Landwirt nimmt für seine Rinderzucht nur die besten Tiere, unsere Gesetze aber wählen lieber die Schlechtesten für die Erhaltung aus und geben sich anscheinend alle Mühe, dass diese Unterart nicht ausstirbt.“ Die Gesellschaft verhält sich also wie die Natur, die sich wie ein Markt verhält und die Armengesetze sind ein Eingriff in die natürliche Ordnung dieses Marktes. Durch sie breitet sich die Armut weiter aus, so dass es ein größeres Angebot an Menschen gibt als Nachfrage besteht, was zu größerem Elend führen muss. Als Lösung spricht sich Townsend dafür aus, jede staatliche Unterstützung einzustellen und die Armen hungern zu lassen – das würde jene, die arbeiten können, sowohl zur Arbeitssuche antreiben als auch ihre Reproduktion verhindern und andererseits die tatsächlich Hilfebedürftigen zu Dankbarkeit gegenüber den freiwilligen Almosengebern verpflichten. Es besteht allerdings ein gewisser Widerspruch zwischen Townsends Rinderzucht-Beispiel und dem moralischen Prinzip der Almosengabe: Ist diese dann nicht auch ein Eingriff in die natürliche Ordnung?

Interessanter als die Polemik gegen Arme und ihre offensichtlichen Parallelen zu heutigen Faulheitsdebatten sind Townsends theoretische Konzepte und ihr Einfluss auf Malthus und Darwin. Es ist bemerkenswert, dass die „Naturgesetze“, denen bei Townsend und Malthus auch die „species humana“ – die Gesellschaft – unterworfen ist und die bei beiden Autoren die Natürlichkeit der Armut begründen, jeweils nur auf einem empirischen Beleg fussen: Bei Townsend ist es das Inselbeispiel, welches die Unsinnigkeit der Armengesetze belegen soll, bei Malthus ist es die Bevölkerungsverdoppelung in Amerika innerhalb von 25 Jahren als Beleg für die Bevölkerungsfalle. In beiden Fällen wird etwas Singulares exemplarisch; ein Beispiel, welches lediglich einen bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit umfasst (und in Townsends Fall sogar aus dem Tierreich stammt) wird zum Naturgesetz. Diese Genügsamkeit in der „Beweisführung“ kommt vielleicht auch daher, weil Townsend und Malthus ohnehin von einer statischen Welt ausgehen – man kann die Gesetze der Natur bzw. der Gesellschaft zwar erkennen, aber nicht verändern.

1817, als die Armutsfrage in England noch drängender wurde, erschien Townsends Schrift in einer Neuauflage. In deren Vorwort kritisiert William Wyndham zwar einige Äußerungen Townsends als „frivol“ und wendet sich gegen eine sofortige Abschaffung der Armengesetze. Er möchte allerdings Townsends Gedanken, dass die Armengesetze das Leid noch verschlimmern, erneut zur Diskussion stellen und verweist auch auf einen anderen Punkt, der dem Priester Townsend sehr am Herzen lag: Die Armengesetze haben die „Wechselbeziehungen zwischen Mildtätigkeit und Anhänglichkeit“, also das von Townsend naturalisierte Herr-Diener-Verhältnis, geschwächt. Damit wurde den Reichen die Möglichkeit genommen, sich mit der „Almosengabe“ gottgefällig zu zeigen und die Armen demütig an sich zu binden. Durch die Armengesetze müssen sie Steuern zahlen, auf die Arme einen Anspruch haben. 1834 wird die Unterstützung für Arme in England abgeschafft.

Fazit

Die deutsche Erstübersetzung von „Über die Armengesetze“ ist aus zwei Gründen lesenswert. Zum einen verdeutlicht sie, dass die Naturwissenschaft des 19. Jahrhunderts nicht nur von liberalen ökonomischen Theorien beeinflusst war, sondern diese ökonomischen Theorien wiederum aus Naturbeobachtungen abgeleitet wurden. Mit seinem Inselbeispiel hat Townsend viel direkter als alle anderen Denker seiner Zeit die Ökonomie als natürlichen Vorgang beschrieben. Zum anderen gelingt es Phillip Lepenies in seinem Nachwort, die beträchtlichen Parallelen (aber auch die Unterschiede) zu heutigen Armutsdebatten klar heraus zu arbeiten, wodurch die Veröffentlichung eine besonders aktuelle Relevanz erhält.

Daten

Townsend, Jospeh | Über die Armengesetze – Streitschrift eines Menschenfreundes |Suhrkamp | Ins Deutsche übertragen von Christa Krüger| Herausgegeben und mit einem Nachwort von Philipp Lepenies| ISBN 978-3518295823 |10,00 €