Rezension von Ramon

Inhalt

In der Reihe „Naturkunden“ wird jeweils ein Tier, eine Pflanze oder eine andere Naturerscheinung betrachtet. Dabei vermischen sich Kultur- und Geistesgeschichte, Naturwissenschaften und die subjektiven Zugänge der Autorinnen und Autoren. „Korallen“, geschrieben von der Kulturwissenschaftlerin und Literaturkritikerin Jutta Person, ist bereits der fünfzigste Band.

Korallen faszinieren die Menschen schon seit Jahrtausenden. Heute werden sie zu den Nesseltieren gerechnet, doch früher hielt man sie für Steine oder Pflanzen. In Amulettform sollten sie gegen böse Blicke schützen und Krankheiten heilen. Seit jeher begeistern Korallen die Menschen aber auch schlicht mit ihrer Schönheit und Rätselhaftigkeit: „Zwischen hart und weich, zwischen stabilem Skelett und fleischigem Körper, zwischen versteinerter Hülle und pulsierenden Polypen entsteht ein neuer Spielraum für die Vorstellung eines Tierwesens, das aus unendlich vielen Einzeltieren besteht und Kathedralen auf dem Meeresgrund errichtet“.

In Persons Buch lernen wir, wie vielgestaltig die Korallen aufgrund ihrer Eigenschaften die Geistesgeschichte beeinflusst haben. Prägend war zunächst der Entstehungsmythos in Ovids „Metamorphosen“. Nachdem Perseus die besiegte Medusa auf Seetang bettete, verfärbte sich dieser durch das Blut, das vom Haupt der Gorgone tropfte. Dann verhärtete sich der Seetang zu Korallenstöcken und wurde über das Meer verteilt. Person spürt den Gründen nach, warum die Korallen in allen Zeiten die „mustergültigen Metamorphosekünstler“ waren. Sie sieht in ihnen „Sonderfälle des Versteinerns“, da in ihren Verzweigungen der Augenblick der Verwandlung wie festgehalten wirkt. Neben dem neuen Zustand sei auch der Alte weiter sichtbar. Was Korallen mit Psychoanalyse und der Arbeiterklasse zu tun haben, auch das erfahren wir in Persons Buch. Letztere beide sind Kräfte, die im 19. Jahrhundert „aus einer bislang verborgenen Tiefe nach oben drängen“. Der britische Ökonom Richard Jones überträgt die riffbauenden Korallen auf die Schicht der alten und neuen Arbeiter, Karl Marx folgt ihm im „Kapital“, wenn er die Organisationsweise der Korallen – jedes Individuum führt der gesamten Gruppe Nahrung zu –  dem kapitalistischen System entgegenstellt.   

Doch auch in den gegenwärtigen Geisteswissenschaften wird die Koralle gerne herangezogen, um Ideen zu veranschaulichen. Nicht nur weil in ihnen Lebendes und Totes, Organisches und Nichtorganisches ineinander übergehen. (Korallenriffe gründen, wie Person es formuliert, „auf den Toten, die sie selbst produziert haben“.) Sondern auch, weil sich die Korallen vielgliedrig gabeln und in alle Richtungen auswachsen. So bezieht sich die amerikanische Wissenschaftstheoretikerin Donna Haraway auf die Korallen, wenn sie ein „tentakuläres Denken“ fordert. Darin inbegriffen ist, die anderen Spezies auf Augenhöhe zu sehen und die ungebremste Ausbeutung der natürlichen Ressourcen zu beenden.

Die „schöne rote Farbe“ der Koralle ist durch die Jahrhunderte auf zahlreichen Gemälden ein beeindruckender Blickfang. Wie alle Ausgaben der Reihe „Naturkunden“ ist auch dieses Buch reich gesegnet mit Abbildungen in hochwertiger Qualität und exzellenter Farbwiedergabe.

Weiter beschäftigt sich Person mit Korallen in der Literatur und mit der Entdeckung der Koralle als Tier durch Peyssonnel im 18. Jahrhundert. Wie erfahren etwas über die „Salonaquarien“ im viktorianischen Zeitalter, die die Korallen in die menschlichen Behausungen brachten. Nicht zuletzt geht es auch um die Bedrohung der Korallen durch den Klimawandel.

Besonders gut hat mir das Kapitel „Sie sind unter uns“ gefallen, in welchem Person ihre Impressionen während einer Tauchexpedition in der Andamanensee in Thailand schildert. Nicht nur hier schreibt Person sehr anschaulich und atmosphärisch, so dass die Lektüre niemals trocken gerät. Abgerundet wird das Buch durch eine Reihe Portraits der verschiedenen Korallensorten.

Fazit

Es ist eine Freude diesen Band zu lesen und zu betrachten. Aufgrund der phantastischen Gestaltung auch hervorragend zum Verschenken geeignet.