Rezension von Fenna Wächter

In seinem Vorwort, verfasst am 14. Juli 1613, stellt Cervantes seinen Erzählungen – seinen „Novellen“, wie er sie nennt – einen wichtigen Hinweis voran: „Es war meine Absicht, auf dem großen Marktplatz unseres öffentlichen Lebens einen Spieltisch aufzustellen, an den jedermann herantreten und sich ergötzen kann, ohne wie beim Ringspiel mit den Eckpfeilern in Konflikt zu geraten“.

Und tatsächlich hat er einige „Eckpfeiler“ aus dem Weg geräumt. Für damalige Verhältnisse schreibt er nahezu schockierend offen über große Emotionen: Liebe und Begehren ebenso wie Neid und Hass. Er unterstellt Leuten von Rang niedrigste Beweggründe und gesteht solchen, die am Rande, teils außerhalb, seiner Gesellschaft stehen, die edelsten Gefühle zu. Die wirkenden Personen entstammen dem Bürgertum, das zu dieser Zeit gerade im Entstehend begriffen ist. Cervantes‘ Zeitgenossen können sich nicht länger mit Sagen rund um edle Ritter identifizieren. Es müssen Geschichten von Soldaten sein, von Händlern und reisendem Volk.

Wichtig ist, sich als heutiger Leser nicht von solchen Sätzen abschrecken lassen: „Man könnte fast meinen, dass die Zigeuner und Zigeunerinnen nur auf die Welt kommen, um sich hier als Spitzbuben zu betätigen.“ Wem das gelingt, der kann sich genussvoll Geschichten hingeben, die trotz leicht angestaubt wirkender Sprache und eigentlich vorhersehbarem Verlauf innerhalb weniger Seiten die volle Aufmerksamkeit des Lesers verlangen.

So fiebert man mit der kleinen Zigeunerin Preciosa mit, der ein undurchsichtiger Mann den Hof macht und mehr noch mit „Der Spanierin in England“, die als Kind von einem englischen Befehlshaber erbeutet wird und seiner Frau zum Geschenk gemacht wird.

Die einer Tochter gleich – und in aller Heimlichkeit eine katholische Erziehung genießend – heranwächst und dem Sohn der Familie ebenso verfällt wie er ihr. Die sogar die englische Königin um den Finger zu wickeln weiß, doch deren Liebesglück von den ungewollten Avancen eines mächtigen Höflings getrübt wird.

Cervantes‘ Erzählungen haben die literarische Nachwelt geprägt. 1623 wird die Geschichte rund um die Zigeunerin Preciosa in England für die Bühne adaptiert und ein rauschender Erfolg. Victor Hugos Esmeralda in Notre Dame de Paris ist sicherlich zumindest teilweise eine Hommage an Preciosa. In einem Schreiben an Schiller gesteht Goethe 1795, wie sehr er die Lektüre der Novellen genossen habe, überhaupt ist das Publikum der deutschen Romantik nahezu verzückt von den exotischen Schauplätzen in den Novellen.

Wie wird Hermann Hesse im Klappentext zitiert? „Cervantes‘ Novellen sind wahre Kleinode einer überlegenen Erzählkunst“ und das trifft den Nagel auf den Kopf, bezeichnet doch das Wort „Kleinod“ kostbare Juwelen. Wer die Meistererzählungen aufschlägt, greift sozusagen in einen Beutel voller Juwelen und hält mal den einen, mal den anderen, ins Licht. 13 solcher Juwelen finden sich in der Kurzgeschichten-Sammlung und obwohl manche eben doch immer noch ein bisschen mehr begeistern als andere, ist keine einzige enttäuschend.