Rezension von Ramon

Seinen großen Karrieredurchbruch als Schriftsteller hatte David Sedaris im Alter von 41 Jahren. 1997 erschien „Nackt“, eine Sammlung von humoristischen autobiografischen Texten, die man vielleicht am besten als essayistische Kurzgeschichten bezeichnen kann. Dieser Form ist Sedaris seitdem weitgehend treu geblieben.

Auch in den nach „Nackt“ erschienen Textsammlungen geht es um verschiedene Aspekte seines Lebens, insbesondere seine langjährige Drogensucht, seine große griechisch-amerikanische Familie, seine Erlebnisse als Exilant in Frankreich, seine Rolle als Sohn, Bruder und Lebensgefährte und immer wieder seine zahlreichen prekären Malocherjobs, die er noch bis in die späten Dreißiger ausübte, bevor er ein erfolgreicher Autor wurde.

Der „gereifte“ Sedaris hat weniger zu erzählen

Anders als in vielen früheren Werken geht es in „Calypso“ vor allem um das gegenwärtige Leben und Erleben des mittlerweile zweiundsechzigjährigen David Sedaris. Seine Schwester Gretchen hat jetzt eine neue Frisur. David Sedaris benutzt jetzt ein Fitbit. Er hat ein Ferienhaus für seine Familie gekauft. Seine größten Hobbys sind shoppen und putzen. Außerdem schaut er gerne Scripted Reality-Shows im Fernsehen.

Oft hatte ich das Gefühl, es mehr mit kleinen Anekdoten als runden Geschichten zu tun zu haben, wie man sie aus „Nackt“ oder „Ich ein Tag sprechen hübsch“ kennt. Womöglich ist Sedaris‘ Alltag inzwischen auch durch eine gewisse Erlebnisarmut gekennzeichnet, die größere Bögen nicht mehr zulässt.

Natürlich gibt es gelungene Passagen. Wenn er erzählt, wie er sich im Anschluss an eine Lesung ein Liposom entfernen lässt, das er dann später an ein Tier verfüttert. Wenn er sich ausführlich ausmalt, wie sein Partner Hugh alleine isst, während er auf Reisen ist. Wenn er darüber nachdenkt, ob man einer Fußballmannschaft im Flugzeug applaudieren sollte.

Kein Sinn für Parität

Immer wieder schreibt Sedaris über eine seiner Schwestern, die im Alter von 49 Jahren Suizid begangen hat. Gleich zu Beginn von „Calypso“ erwähnt Sedaris, dass diese Schwester ein Testament hinterlassen habe, in dem sie verfügte, dass ihre Leiche nicht in die Hände der Familie übergehen dürfe und auch niemand aus der Familie berechtigt sei, bei ihrer Bestattung anwesend zu sein. Er erwähnt auch, dass man in der Wohnung der toten Schwester zerrissene Familienfotos gefunden habe. Deutlicher kann ein Mensch nicht sagen, dass er keine weitere Einmischung Familienangehöriger in sein Leben wünscht.

Sedaris respektiert diesen Wunsch aber offensichtlich nicht, sondern schreibt immer wieder und in verschiedenen Geschichten des Buchs über diese Schwester, stellt sie als das schwarze Schaf der Familie dar und beschreibt ihren sozialen Abstieg. Ganz unabhängig davon wer seine Schwester war und selbst wenn er nur Positives oder Mitfühlendes über sie geschrieben hätte, hätte ich bei der Lektüre einen schlechten Beigeschmack empfunden. In nahezu jeder Großfamilie kommt es zu Deutungskämpfen zwischen den Geschwistern.

Wer hat Recht, wer ist schuld, was ist der andere für ein Mensch? Hat Sedaris‘ Schwester in ihrem letzten Willen nicht überdeutlich signalisiert, dass sie nicht weiter gedeutet werden möchte? An einer Stelle klagt der Autor, die Schwester habe in einem Streitgespräch zu ihm gesagt: „Warum gehst du nicht zurück auf dein Zimmer und schreibst etwas über dein Schwuchtel-Dasein?“ Es sei beängstigend, was ans Tageslicht komme, wenn jemand wütend auf einen sei, schreibt Sedaris. Es ist natürlich nachvollziehbar, dass ihn diese Aussage verletzt hat. Wir als Leser können allerdings nicht wissen, ob das nicht auch ihr ganzer Sinn und Zweck war und dahinter eigentlich ein anderer Konflikt stand. Der etwa, dass die Schwester etwas dagegen hatte, dass über sie und ihr Leben geschrieben wird.

Wie dem auch sei, ich hatte bei der Lektüre der diese Schwester betreffenden Passagen den Eindruck, dass hier alte Geschwisterkonflikte auf eine wenig paritätische Weise weitergeführt werden. Wenig paritätisch, weil a.) der angegriffene Geschwisterteil sich bereits umgebracht hat und b.) der Angreifer mit einem Nr. 1-Bestseller der New York Times sich selbst dann ungleich mehr Gehör verschaffen könnte, wenn seine Schwester noch sprechen könnte. Vor allem aber fühlte ich mich als Leser davon mehr manipuliert als gut unterhalten und hätte mir dringend eine zusätzliche Perspektive gewünscht.

Fazit

„Noch nie lagen bodenlose Unverschämtheit und charakterliche Größe […] so nah beieinander“, textet der Verlag auf dem Rückumschlag über Sedaris‘ neuen Bestseller. Ich empfand insbesondere die Passagen über seine Schwester vor allem als geschmacklos. Insgesamt wirkt der „gereifte“ Sedaris auf mich oberflächlicher und weniger feinsinnig als sein jüngeres Ich, dem wir unter anderem die erst letztes Jahr erschienenen, hervorragenden Tagebücher aus den Jahren 1977-2002 („Wer’s findet, dem gehört’s“) zu verdanken haben. Ausgerechnet in der Form des Tagebuchs erleben wir hier einen Sedaris, der weniger selbstbezogen ist als in „Calypso“, der sensibel und mit großer Emphase über die Welt um sich herum schreibt und der vor allem auch einen wesentlich spannenderen Stoff zu erzählen hat. So sehr ich kürzlich die Tagebücher genossen habe, so sehr hat mich dieses Buch enttäuscht.

Daten

Originaltitel: Calypso
Karl Blessing Verlag
271 Seiten
Aus dem Amerikanischen von Georg Deggerich
Erschienen 2018