Rezension von Noel

Philip Gourevitch. Wir möchten Ihnen mitteilen, dass wir morgen mit unseren Familien umgebracht werden – Berichte aus Ruanda

Philip Gourevitch reist ab Mai 1995 regelmäßig nach Ruanda. Ruanda, ein kleines Land in zentral Afrika, in dem sich eines der größten Schreckensereignisse des 20 Jh. ereignet hat. Innerhalb von 100 Tagen brachten Hutu mindestens 800.000 Tutsi um. Ruander selber sprechen oft von einer Millionen Toten. Der Journalist Gourevitch , Autor beim New Yorker und später bei The Paris Review, ist fasziniert von dem Land, seinen Menschen und der jüngsten Geschichte.

Gourevitch analysiert den Völkermord von Anfang bis Ende. Von der belgischen Kolonialzeit bis zu den Ereignisse im April 1994 und noch darüberhinaus. Er besucht nicht nur zahlreiche Orte des Genozids, sonder spricht besonders oft mit Beteiligten. Mit Mördern, Flüchtlingen, Offizieren, UN-Mitarbeiter. Mit Nachbarn und mit Menschen, die sich nach dem Völkermord nie wieder in die Augen sehen konnten.

Rezension

Der Einstieg des Buches beginnt sofort mit einem Besuch einer Genozid-Stätte , an der immer noch verweste Leichen liegen. Die ersten Seiten sind heftig und lassen einen Schlucken. Aber der Strom an Gewalt in dem Buch reißt gewiss nicht ab. Wenn Gourevitch schildert, wie Tutsi zerhackt werden, gefoltert und er es auch noch von Leuten erzählt bekommt, die selber gefoltert haben, fragt man sich möglicherweise ob man dieses Buch noch am Abends lesen sollte, denn zu lachen gibt es hier nichts!

Neben Interviews mit Ruandern spricht er auch mit UN-Mitarbeitern und macht auf die Tragödie und das fehlende Eingreifen des Westens aufmerksam. Er nimmt jedes Statement der USA oder UNO zu diesem Thema auseinander und brüskiert damit zu Recht die Weltgemeinschaft. UN-Generalsekretär Kofi Anan selbst sagte: „Die internationale Gemeinschaft hat in Ruanda versagt.“

Das die Weltgemeinschaft versagt hat, dazu braucht man dieses Buch wahrlich nicht zu lesen. Man sollte dieses Buch lesen, um mehr über die Hintergründe zu erfahren. Beeindruckend fand ich besonders, mit was für verschiedenen Leuten er sprechen konnte. Familien, die Angehörige verloren haben und solche, die dafür verantwortlich sind, sprechen meistens offen mit dem Journalisten und bieten dadurch ein tiefen Einblick in die Logik oder eben fehlende Logik des Völkermordes. Nach seiner Analyse und der Logik der Ruander war der Völkermord ein Mittel Leid zu lindern und nicht zu erschaffen. Der Völkermord an den Tutsi schweißte im postkolonialen Ruander die Leute zusammen.

Sich in diese, für uns so befremdlichen Gedanken zu versetzen, macht den Reiz dieses Buches aus.  Sachliche Schilderungen und (meist) leicht verständliche Sätze bringen selbst Laien ein so komplexes Thema nah. Inwiefern man die Einschätzungen des Autors und seine Schlussfolgerungen teilt und was andere Wissenschaftler dazu sagen, sei mal dahingestellt. Dennoch geht er hier über den Völkermord hinaus, er forscht nach der Natur des Menschen. Nach dem Sein, der Logik, dem Wahnsinn.

Neben Ruanda beschäftigt sich der Verfasser auch mit Zaire (heute Kongo genannt), Burundi und der gesamten humanitären Katastrophe in Zentralafrika. Den Kriegen, den Flüchtlingen, Machtkämpfen und dem Erbe der Kolonialmächte. Ein ganz schöner Rundumschlag wird hier gemacht, der wie ich finde gelungen ist. Besonders gegen Ende des Buches rücken auch die Nachbarländer in den Fokus, die unweigerlich auch thematisiert werden müssen.

Die einzige Schwäche des Buches ist sein Erscheinungsdatum. Mai 1998. Nach dem Lesen stellte ich mir die Frage: Wie ist es jetzt in Ruanda?  20 Jahre nach dem Völkermord – wie leben Täter und Opfer nun? Natürlich konnte mir das Buch auf diese Frage keine Antwort geben.
Anmerken muss man hier, etliche Zeitungen und TV-Formate haben im April 2014, als sich der Völkermord zum zwanzigsten mal jährte, berichtet.

Fazit

Einige Berichte sind erschütternd, herzzerreißend und lassen einen fassungslos zurück. Es wird mir lange in Erinnerung bleiben. Ein sehr spezielles Buch für Leute, die ein großes Interesse an Ethnologie und Geschichte mitbringen.

Anmerkung

Vorne im Buch befindet sich eine Definition für Völkermord, in der Ruanda als effizientester Massenmord seit den Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki genannt wird. Hinten im Buch beinfindet sich eine Karte Ruandas. Jedes Kapitelbeginnt mit Zitaten aus anderen Büchern . Z.B. aus John Milton: Das verlorene Paradies oder Plato: Der Staat. Die ZEIT hält Gourevitch’s Buch für die bislang gründlichste Analyse des Genozids (1999).

Infos

Erschienen bei  BvT (Berliner Taschenbuch Verlag) 1999
426 Seiten
ISBN 978-3-8333-0531-3